„Flüchtlinge im eigenen Land“: Psychologe sieht „Wertschätzungsdefizit“, das Deutschland zerreißt

Der Kölner Psychologe und Marktforscher Stephan Grünewald diagnostiziert bereits seit Längerem mit Besorgnis eine zunehmende Aufgewühltheit in Deutschland. Die Zeit der behüteten Sorglosigkeit sei vorbei, die Deutschen hielten jedoch umso verbissener am Status quo fest. Die Arroganz der Eliten verschärfe die Lage. Sein Lösungsansatz wirkt jedoch paradox.
Von 10. Juli 2019

Der in Köln lebende Psychologe Stephan Grünewald (58) ist Geschäftsführer des Markt- und Medienforschungs-Instituts rheingold. Er verfasst auch regelmäßig Texte und Analysen zu Trends, Lebensalltag oder Gesellschaftsforschung. Aus seiner Feder stammen Bücher wie „Die erschöpfte Gesellschaft: Warum Deutschland neu träumen muss“ oder „Wie tickt Deutschland? Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft“.

An dieser Aufgewühltheit hat sich, wie Grünewald im Interview mit der „Welt“ diagnostiziert, wenig geändert:

„Wir merken eine Gereiztheit, eine Unduldsamkeit nicht nur in den sozialen Netzwerken, sondern auch im Straßenverkehr. Spürbar ist auch eine zunehmende Zerrissenheit. Und das obwohl Deutschland im Vergleich zu anderen ein relativ stabiles Land mit niedriger Arbeitslosigkeit, prosperierender Wirtschaft und gutem Gesundheitssystem ist.“

Dies habe auch mit einer Politik zu tun, die eine Anpassung an den allgemeinen Trend zum Beta-Mann erfahren habe.

„Brave Folgsamkeit und breiige Beliebigkeit“

„Wir haben in den letzten Jahrzehnten eine Ent- und Umwertung des Männlichen erlebt, doch der brave und selbstreflektierte Frauenversteher mit dem man sich nicht auseinandersetzen kann, wird auch von den Frauen nicht geliebt“, analysiert Grünewald.

Es geht allgemein, auch in der Politik, um die Unfähigkeit, eigene Standpunkte zu beziehen und dann dafür zu streiten und gegen Widerstände etwas auszuhandeln. Was für einen verbreiteten Typus Mann, den ich Schoßhund nenne, die Partnerin, ist für den Politiker die Demoskopie. Da entstehen eine brave Folgsamkeit und breiige Beliebigkeit.“

US-Präsident Donald Trump sei dazu das Gegenmodell. Er „zeigt frustrierten Männern, es könnte auch anders gehen. Das Herrische triumphiert.“ Deshalb würden die vermeintlichen Skandale, die Medien seit Jahr und Tag rund um seine Person und Politik konstruieren, „ihm nicht schaden, sondern ihm sogar nutzen“.

In Deutschland rühre demgegenüber eine ungemeine Unsicherheit daher, dass die Menschen spüren, wie sich um sie herum die Welt verändere, aber man nicht den Eindruck habe, für das eigene Land könne dies allzu viel Positives bewirken. Deshalb halte man umso verbissener am Status quo fest.

Deutsche fühlen sich ohne Merkel schutzlos den Populisten ausgeliefert

Zu einer Veränderung kommt es nur im Leidensdruck“,

erklärt Grünewald weiter.

Solche Prozesse sind immer anstrengend. Die Menschen spüren, dass die Welt im Umbruch ist, aber die Deutschen hoffen, dass sie ein paar Jahre die Zeit anhalten können.

Merkels Raute war das Sinnbild dieser Stabilität. Dadurch stauen sich aber auch unsere Gestaltungsenergien. Es gibt keine Pionierstimmung. Das ist der Fluch des Paradieses. Das Wort ‚Notwendigkeit‘ verweist darauf, dass die Wendigkeit aus der Not kommt.“

Dass Grünewalds Meinungsforschungsinstitut im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 das Endergebnis präziser vorhergesagt habe als andere, lag demnach daran, dass viele an Merkel festhalten wollten, weil sie sonst Angst gehabt hätten, Erdoğan, Putin und Trump schutzlos ausgeliefert zu sein.

Der brave deutsche Michel werde allerdings für seine Gelehrigkeit und Anpassungsfähigkeit, die er über die Jahrzehnte hinweg offenbart habe, nicht belohnt. Im Gegenteil: Der Psychologe sieht ein „enormes Wertschätzungsdefizit“ und fehlende Solidarität. Das moralisch Gute der Eliten werde zu erbarmungslos in seinem Geltungsanspruch:

„Was die Menschen erleben, ist eine Art Zweiklassengesellschaft, in der der bodenständig lebende Mensch das Gefühl hat, er werde nicht anerkannt, weil er noch Fleisch auf den Grill hievt, Süßspeisen verzehrt, Alkohol trinkt, Diesel fährt und nur den Hauptschulabschluss hat. Das Gefühl besagt: Ich bin der Ungute, und die Eliten tun, als müssten sie nichts ändern, sondern seien per se ‚richtig‘. Da kann kein gemeinsamer Aufbruchsgeist entstehen, wenn die Last der Verwandlung nur dem Sündenbock auferlegt wird.“

Ende der Illusionen

Nach der Wiedervereinigung habe man gedacht, man könne dauerhaft „ein spaßbewegtes, widerspruchsfreies und leichtes Leben führen, ohne Religionen, ohne Ideologie“. Heute hingegen würden Sparer durch Negativzinsen bestraft und das Wohnen in Großstädten sei für viele kaum noch bezahlbar.

Viele fragen bereits: Habe ich überhaupt noch ein Bleiberecht? Bin ich willkommen? Das ist eine Erfahrung, als sei man Flüchtling im eigenen Land. Da ist viel sozialer Sprengstoff drin, denn das ist eine enorme Kränkung.“

Persönlichkeiten wie Helmut Kohl oder später Angela Merkel galten als „Gestalt, die uns versorgte und nach dem Rechten sah“. Mit ihnen hätten die Menschen ein Stillhalteabkommen geschlossen. Aus der „coolen Gleichgültigkeit“ sei heute hingegen eine „entfesselte Beliebigkeit“ geworden.

Wir wissen nicht mehr, was richtig oder falsch ist. Der Standpunkt ist erodiert. Der innere Kompass ist verloren gegangen.“

Nun gäbe es nur noch zwei Wege: „Wir reduzieren radikal die Komplexität, lassen Lügen und Heilsideen zu und konfektionieren so die Welt.“ Grünewald ordnet hier Trump, die AfD mit ihrer „Retrosehnsucht“ oder den Autor Michel Houllebecq ein. So würden „der Totemismus wiederkehren und die Stammesgesellschaft“. Das wäre eine „archaische Form der Orientierung, aber es wäre der Verlust unserer Kultur“.

„Der letzte Sommer und die Jugend haben die Grünen rehabilitiert“

Der andere wäre „verdammt anstrengend“, eine Variante, die den Streit und die monatelange gesellschaftliche Debatte zulasse, statt „alternativlos“ Konzepte durchzuwinken.

Eine Heilslehre will Grünewald aber dann offenbar doch zulassen. Die Aussicht, nach Merkel die Grünen auch offiziell als Führungselite zu bekommen, betrachtet er nicht als den Weg vom Regen in die Traufe.

Der Fehler der Grünen sei lange gewesen, den „Kampf für die Natur mit einem Kampf gegen die menschliche Natur zu verbinden“. Dadurch sei der Nimbus der Verbotspartei entstanden. Die Menschen hätten sich von ihnen nicht verstanden gefühlt. Nun seien sie aber restlos rehabilitiert:

Ihr Kampf für die Natur ist beleumundet worden durch das Klima, den letzten Sommer, durch die Jugend.“

Zudem, so begeistert sich Grünewald, hätten die Grünen „aber auch menschliche Nähe und Bodenständigkeit durch ihr Führungspersonal erreicht“.

„Man glaubt Habeck, dass er sein Kotelett grillt. Er ist ein Mensch. In den Anfangsjahren waren die Grünen schon einmal so lebensfroh, mit Sonnenblumen, Farben, Turnschuhen, jungen Frauen. Doch dann rutschten sie in die Askese ab, die das Leben nicht liebte.“

Bei so glanzvollen Sachwaltern sei es dann auch nicht problematisch, wenn die gemeinsame Vision einer Gesellschaft aus einem Angstszenario bestehe.

„Wenn dadurch Innovation entsteht, wenn wir zusammenrücken, ist das gut.“



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