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Sexueller Missbrauch im Sport
"Doppelt so viele Fälle wie in der katholischen Kirche"

200.000 Betroffene im Breitensport und 114.000 jeweils in der katholischen als auch in der evangelischen Kirche: Eine bisher unveröffentlichte Studie der Uniklinik Ulm beweist, das Thema sexueller Missbrauch im Sport hat in Deutschland bislang noch nicht die Aufmerksamkeit, die es haben sollte.

Von Andrea Schültke | 12.07.2019
Die Füße einer Turnerin stehen auf dem Schwebebalken
Turnerin auf dem Schwebebalken (picture alliance / ZB Thomas Eisenhuth)
Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiatrie, hat erstmals die Angaben der Betroffenen in unterschiedlichen Institutionen verglichen. Fazit: "Wir haben in Deutschland ungefähr doppelt so viele Fälle im Sport wie in der katholischen Kirche."
Das ist in der breiten Öffentlichkeit so noch nicht angekommen. Vor zweieinhalb Jahren gab es erstmals Zahlen zum Ausmaß des sexuellen Missbrauchs im Leistungssport. Da hatte das Team um Jörg Fegert 1800 Leistungssportlerinnen und -sportler befragt:
"Im Leistungssport waren wir schon entsetzt zu merken, dass es mehr als ein Drittel ist, die sexuelle übergriffige Dinge erlebt haben. Und wenn man es sehr eng nimmt, haben drei Prozent tatsächliche Übergriffe mit Penetration, schwerste Taten erlebt, aber es kommt natürlich ein großes Feld dazu von ungewollten Berührungen."
Sportförderung an Präventionskonzepte geknüpft
Auf diese Daten haben Sport und Politik reagiert, Kinderschutzmaßnahmen angemahnt. Das fand zunächst wenig Gehör. Jetzt der nächste Schritt: Es geht ans Geld. Das für den Leistungssport zuständige Bundesinnenministerium hat die finanzielle Förderung des Leistungssports an die Vorlage von Präventionskonzepten geknüpft.
Porträt Markus Kerber.
Markus Kerber ist Staatssekretär im Bundesinnenministerium. (dpa-Zentralbild)
Laut Staatssekretär Markus Kerber heißt das für den Sport: Ansprechpartner für das Thema benennen, erweiterte Führungszeugnisse ihrer Mitarbeiter einholen und diese zum Thema schulen:
"Das heißt, keiner kann nachher dann sagen, wir haben uns mit dem Thema nie befassen können. Das muss auf allen Ebenen im organisierten deutschen Sport stattfinden. Ansonsten können wir eine Förderung ja nicht aufrechterhalten."
Ob und wie das Bundesinnenministerium die Umsetzung der Konzepte überprüft, konnte Kerber nicht sagen.
Interview mit Andrea Schültke:
Sexueller Missbrauch im Breitensport - Wie kann es dazu kommen? (09:19)
Nicht nur auf Vertrauen setzen
Sportsoziologin Bettina Rulofs forscht seit Jahren zum Thema sexueller Missbrauch. Sie empfiehlt dem Bundesinnenministerium, nicht nur auf Vertrauen zu setzen.
"Ich denke, man muss nun abwarten, ob das sozusagen eine Frage der Ehre und des Glaubens und des Vertrauens bleibt, dass dies auch in den Verbänden dann umgesetzt wird oder ob das BMI vielleicht zum Beispiel stichprobenartig auch Kontrollen durchführt, um zu testen, ob die Standards, die vom BMI gesetzt werden, auch tatsächlich in den Verbänden eingehalten werden."
Bettina Rulofs, Voice-Projektkoordinatorin aus Deutschland bei einer Rede
Bettina Rulofs, Projektkoordinatorin von "Safe Sport" (Andrea Schültke, DLF)
Die Schwachstellen im Sportsystem, die sexuellen Missbrauch begünstigen, sind noch gar nicht aufgearbeitet. Da setzt die Aufarbeitungskommission der Bundesregierung an. Seit Anfang Mai wendet sie sich gezielt an Betroffene aus dem Sport, bittet sie anonym ihre Geschichte zu erzählen. Laut Kommission haben sich bereits Betroffene aus unterschiedlichen Sportarten gemeldet.