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Geschichte Nachkriegszeit

Auf 160 Frauen kamen nur 100 Männer

Die Bundesrepublik im Jahr 1949: eine Trümmerwüste, so arm wie ein Dritte-Welt-Staat. Jedes zehnte Baby starb. Nur eine halbe Million Autos fuhr auf den Straßen. Und die Scheidungsrate war Rekord.
Eine Gruppe von Frauen, die wegen Schwarzhandels leichte Strafen erhielten, sind damit beschäftigt, Trümmer von den Berliner Straßen zu räumen. | Eine Gruppe von Frauen, die wegen Schwarzhandels leichte Strafen erhielten, sind damit beschäftigt, Trümmer von den Berliner Straßen zu räumen. |
Eine Gruppe von Frauen, die wegen Schwarzhandels leichte Strafen erhielten, sind damit beschäftigt, Trümmer von den Berliner Straßen zu räumen. |
Quelle: picture-alliance / dpa

Was war 1949 anders als heute? Fast alles. Schneller zu beantworten ist die Frage: Was war ähnlich? Wie heute gab es Wohnungsnot – nur viel mehr. Deutschland war eine Trümmerwüste, wobei die Alliierten in erster Linie nicht Industrie-, sondern Wohngebiete bombardiert hatten. Wie heute gab es Flüchtlinge – nur viel mehr. Fast acht Millionen Vertriebene hatten sich nach Westdeutschland durchgeschlagen und wurden dort oft übel angefeindet.

So sah Berlin direkt nach der Befreiung aus

Zum Teil bislang unveröffentlichte Aufnahmen: Der Filmproduzent Konstantin von zur Mühlen kann das Leben im ersten Sommer nach Hitler dokumentieren.

Quelle: Die Welt

Wie heute gab es Nazis – nur viel mehr. Einer Meinungsumfrage von 1949 zufolge war eine Mehrheit der Deutschen davon überzeugt, dass der Nationalsozialismus eine gute Sache gewesen sei, wenngleich schlecht ausgeführt. 37 Prozent der Befragten in der amerikanischen Zone gaben 1946 an, dass „die Vernichtung der Juden und Polen und anderer Nichtarier für die Sicherheit der Deutschen notwendig“ gewesen sei.

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Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland erlassen. Es gilt bis heute. Wer damals im Westen Deutschlands geboren wurde, hat sein ganzes Leben im selben Staat verbracht. Dennoch: Wenn man aus der heutigen in die damalige Bundesrepublik reisen könnte, würde man wohl einen Schock erleiden. Zumindest würde man sich schnell wieder zurückwünschen.

Die Straßen waren leer. Insgesamt existierten wohl eine halbe Million Personenwagen in Deutschland – heute sind es 47 Millionen, wie Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer angibt. Die Städte waren von Ruinen geprägt. In Köln, der am stärksten zerstörten Großstadt, schien die Lage so hoffnungslos, dass ernsthaft erwogen wurde, es an anderer Stelle wieder aufzubauen, nämlich weiter nördlich. Das hätte den Vorteil gehabt, dass man nicht erst den ganzen Schutt hätte wegräumen müssen.

Die damalige Bundesrepublik war so arm wie ein heutiges Dritte-Welt-Land. Von 1000 lebend Geborenen starben im Jahr 1946 knapp 100, also zehn Prozent. 1947 zeigten sich amerikanische Besucher schockiert über den Anblick ausgemergelter Kinder mit aufgeblähten Hungerbäuchen.

1948 war die größte Not mit der Einführung der D-Mark zwar vorüber – die plötzlich reich gefüllten Schaufenster waren im Rückblick für viele Westdeutsche der eigentliche Gründungsakt der Bundesrepublik –, aber die wenigsten konnten sich diese Waren leisten. Gutes Essen blieb eine solche Besonderheit, dass es 1949 von Konrad Adenauer gezielt eingesetzt wurde, um sich an die Spitze des neuen Staates zu setzen.

ARCHIV - Konrad Adenauer (CDU) wird am 20. September 1949 durch Bundestagspräsident Erich Köhler (r) als erster Kanzler der Bundesrepublik Deutschland in Bonn vereidigt. Bei der ersten Bundestagswahl gaben 78,5 Prozent aller 31,2 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab, wählten den ersten Deutschen Bundestag der Geschichte - und erteilten linken wie rechten Parteien eine Absage. Stattdessen ebneten sie dem CDU-Politiker Adenauer den Weg ins Bundeskanzleramt. Foto: dpa nur s/w (Serie "Bundestagswahl historisch"; zu dpa: "1949: Der wohl härteste Wahlkampf der Bundesrepublik") +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit
Konrad Adenauer (CDU) wird am 20. September 1949 als erster Bundeskanzler vereidigt
Quelle: picture alliance / dpa

Schauplatz dieses Handstreichs war sein Haus in Rhöndorf bei Bonn an einem heißen Augustsonntag, eine Woche nach der ersten Bundestagswahl. Es ging um die Frage: Welcher Politiker der siegreichen CDU wird jetzt Bundeskanzler? Der 73 Jahre alte Adenauer hatte starke Konkurrenz. Seine Strategie: nicht reden, sondern essen. Der CSU-Politiker Franz Josef Strauß erinnerte sich später: „Überwältigender Eindruck für uns ausgehungerte Großstädter war ein Buffet von einer Reichhaltigkeit, wie ich es auf Privatkosten Adenauers weder vorher noch nachher jemals erlebt habe.“

Als alle gesättigt, dankbar und wohl auch etwas angeheitert auf dem Sofa saßen, verkündete Adenauer unvermittelt, „aus Parteikreisen“ sei der Wunsch an ihn herangetragen worden, sich als Kanzler zur Verfügung zu stellen. Welche Parteikreise das gewesen sein sollten, blieb für immer sein Geheimnis. Doch ehe man groß reagieren konnte, erklärte er auch schon: „Ich bin trotz meiner Jahre grundsätzlich hierzu bereit.“ Niemand hatte die Courage, zu widersprechen. Man wollte ja nicht undankbar sein.

Nach dem Krieg war Deutschland eine Trümmerwüste
Nach dem Krieg war Deutschland eine Trümmerwüste
Quelle: picture alliance / dpa

Dicke hatten also Seltenheitswert in der Bundesrepublik von 1949. Und wo waren eigentlich die Männer? Auf 125 Frauen kamen kurz nach dem Krieg nur 100 Männer, bei den jüngeren Jahrgängen sogar auf 160 nur 100. Das führte dazu, dass viele Frauen berufstätig wurden. Wenn ihre Männer dann aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrten, konnten sie sich häufig nicht mehr damit abfinden, wieder in die Rolle des Hausmütterchens abgedrängt zu werden: 1950 verzeichnete die Bundesrepublik eine Scheidungsrate von 14,6 Prozent. Das war ein Wert, der erst Ende der 60er-Jahre wieder erreicht wurde.

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Arbeit gab es vor allem in der Landwirtschaft und in der Industrie. Das Ruhrgebiet – heute in vieler Hinsicht abgehängt – war das Kraftzentrum der jungen Bundesrepublik. Vor dem Wiedererstarken dieser größten Industrieregion Europas fürchtete sich vor allem die französische Regierung so sehr, dass Außenminister Robert Schuman 1950 eine überstaatliche Kontrolle der Schlüsselindustrien Kohle und Stahl vorschlug: Es war die Keimzelle der Europäischen Union.

In ARTE am 25.1.996 ab 20.45 Uhr Themenabend: BILLETTS; BRIKETTS; BESATZUNGSZEIT - KULTUR UND DEUTSCHER ALLTAG NACH 1945 um 21.30 Uhr BERLINER BALLADE Spielfim, Deutschland 1948 Regie: R.A. Stemmle Im Jahr 2049 versetzt sich ein Bewohner dieser zukünftigen Welt mittels Spezialzeitbetrachter in das Jahr 1949. Otto Normalverbraucher, ein Berliner und unfreiwilliger Vaterlandsverteidiger, ist in Bayern gestrandet. Dort lernt der einige Errungenschaften der wiedergewonnenen Zivilisation kennen: Zuzugsgenehmigung, Lebensmittelkarten, Arbeitserlaubnis ... Foto: Gert Fröbe (vorne links) als Otto Normalverbraucher |
Gert Fröbe (vorne l.) als Otto Normalverbraucher in Robert Adolf Stemmles Film "Berliner Ballade" (1948)
Quelle: picture-alliance / obs

Arbeit bestimmte das Leben, Verreisen konnte man nicht. Die meisten Berufstätigen hatten nur wenige freie Tage im Jahr und kaum Geld für das Nötigste. Erschwinglich war aber Kino: Der durchschnittliche Bundesbürger sah sich 16 Mal im Jahr einen Film an, 1949 zum Beispiel die „Berliner Ballade“ mit einem spindeldürren Hauptdarsteller namens Gert Fröbe. Selbiger ging danach wie ein Symbol des Wirtschaftswunders in die Breite und mimte 1964 an der Seite von Sean Connery den berühmtesten aller Bond-Bösewichte, Auric Goldfinger.

Es gibt noch etwas, was einem heutigen Menschen mit Sicherheit höchst unangenehm auffallen würde, wenn er in das Deutschland des Jahres 1949 katapultiert würde: Er hätte das Gefühl, nicht mehr erreichbar zu sein. Kommunikation war für die allermeisten Menschen nur möglich im persönlichen Gespräch oder schriftlich per Brief. Aber viele Briefe kamen gar nicht an, weil die Adresse nicht mehr existierte, sondern dort nur noch ein Krater oder ein Trümmerfeld zu finden war.

Die Ehefrau des Nationalsozialisten und Reichsmarschalls Herrmann Göring, Emmy Göring, am 21.7.1948 von der Lagerspruchkammer des Internierten-Krankenhauses Garmisch-Partenkirchen. Sie wurde nach zweitägiger Verhandlung in die Klasse II als Belastete eingestuft. Ihr Mann Hermann Göring war ein enger Gefährte von Adolf Hitler, der von Beginn an dessen Weg in blindem Gehorsam folgte. Nach der Gründung der Gestapo 1933/34 organisierte Göring die brutale Unterdrückung der Opposition und zusammen mit Himmler die Errichtung der Konzentrationslager. Er war einer der Hauptverantwortlichen für den Einsatz ausländischer Zwangsarbeiter und für die Maßnahmen zur Vernichtung der Juden. Göring beging am 15. Oktober 1946 in Nürnberg Selbstmord. | Verwendung weltweit
Entnazifizierung: Hermann Görings Witwe Emmy vor der Lagerspruchkammer 1948
Quelle: picture-alliance / dpa

Fremd war den damaligen Menschen Nostalgie. Sie sahen nach vorn, nicht zurück – denn die Konfrontation mit den Nazi-Verbrechen und den Kriegserinnerungen hielten sie nicht aus. Die Deutschen seien in einen jahrelangen „Heilschlaf“ verfallen, hat der Historiker Götz Aly das Phänomen beschrieben. „Was bitteschön hätte die Generation-Sieg-Heil denn tun sollen? Es bedurfte zunächst einer Art von therapeutischem Koma.“

Die schreckliche Kriegserfahrung habe aber auch einen positiven Effekt gehabt, erinnert sich der Schauspieler Mario Adorf. „Ich habe einen Tieffliegerangriff überlebt. Danach ist mir immer klar gewesen, dass ich unglaubliches Glück gehabt hatte. Das hat mir eine Grundzufriedenheit gegeben.“

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dpa/bas

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