Es sollte ein Befreiungsschlag sein für die katholische Kirche in Deutschland. Die Bischöfe wollten mit einer groß angelegten und von Wissenschaftlern aus Mannheim, Heidelberg und Gießen erarbeiteten Studie über den sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch Priester, Diakone und Ordensangehörige in den Diözesen zwischen 1946 bis 2014 endlich alle Kritiker zum Schweigen bringen.

Seit Jahren sagen diese Kritiker und Opfervertreter, die Kirche sei unfähig, aus den Missbrauchsskandalen der Vergangenheit Konsequenzen zu ziehen. Allen inzwischen beschlossenen Präventionsmaßnahmen zum Trotz: Immer noch gehe der Schutz der Institution vor dem der Opfer, immer noch könne von Selbstkritik und einer schonungslosen Aufarbeitung des Vertuschungssystems, das die individuellen Taten ermöglicht und die Täter deckt, keine Rede sein.

Nachdem die Studie nun bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) in Fulda vorgestellt wurde, steht fest: Der Befreiungsschlag blieb aus. Der Systemfehler ist nicht behoben.

Zwar waren die Wissenschaftler in der Lage, trotz eines komplexen Forschungsauftrags und der zum Teil äußerst dürftigen Datenlage in den Diözesen (so konnte nicht mal ermittelt werden, wie viele Priester im Untersuchungszeitraum überhaupt im Dienst der Kirche standen) überzeugend darzulegen, welche strukturellen Gründe Missbrauch begünstigen und wie er vertuscht wurde. Doch ein entscheidender Aspekt des Systemversagens blieb im Design der Studie unberücksichtigt: die persönliche Verantwortung Einzelner. Über sie sagt die Studie gar nichts aus, weil die Bischöfe das genau so wollten.

Vorwurf der selektiven Aufklärung

So stellen die Wissenschaftler um den Mannheimer Forensiker Harald Dreßing vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit etwa fest: In zwei Bistümern kam es zur systematischen Vernichtung und Manipulation von Personalakten. Doch um welche Bistümer es sich handelt und wer genau für die Vernichtung verantwortlich war, darüber reden die Wissenschaftler nicht. Sie können nicht, denn sie haben sich vertraglich gegenüber ihrem Auftraggeber, der DBK, verpflichtet, nicht über einzelne Bistümer zu reden. Auch mussten sie Beschuldigten auf Wunsch der Auftraggeber anonymisieren.

Deshalb entkräftet die Studie den im Vorhinein erhobenen Vorwurf nicht, eine selektive Aufklärung nutze letztlich nur der Institution. Sie bekräftigt ihn eher noch. Oder wie Matthias Katsch von der Betroffenen-Initiative Eckiger Tisch sagt: "Das kommt dabei raus, wenn man das Trockenlegen eines Sumpfs den Fröschen überlässt."

Reinhard Kardinal Marx, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, sieht das bei der Pressekonferenz in Fulda freilich anders. Wiederholt spricht er von einem "Wendepunkt" in der Geschichte des deutschen Katholizismus, ja von einem Wendepunkt für die Weltkirche. Schließlich wird diese gerade von Chile bis Irland, von Australien bis Pennsylvania von mehreren Missbrauchsskandalen gebeutelt. Insoweit kommt den Worten des auch in Rom mächtigen Marx über Deutschland hinaus Bedeutung zu.

Eine große Geste jedoch, die wirklich zum Symbol einer Zeitenwende hätte werden können, bleibt aus. Zwar bekundet Marx, er empfinde "tiefe Scham" und Entsetzen. Auch entschuldigt er sich bei allen, die in der Kirche "Schmerz erlitten haben". Doch das war zu erwarten. Das gehört inzwischen zur eingeübten Reue-Routine beim Thema Missbrauch, sei es in offenen Briefen, die Papst Franziskus verschickt, oder in den vereinzelten Videobotschaften deutscher Bischöfe. Die Scham mag tief empfunden sein. Konkret jedoch wird sie nie.

Wofür entschuldigt sich Marx etwa genau und bei wem? Betroffene sucht man bei der Vorstellung der Studie auf dem Podium vergebens. Auch wird Marx recht schmallippig, wenn es um eigene Verfehlungen geht – schließlich fällt man als Bischof ja nicht vom Himmel. Als Generalvikar, Regens, Personalreferent hat jeder Bischof über Jahrzehnte Verantwortung getragen in dem klerikalen System, dessen Auswüchse man nun beklagt.

"Sie sind naiv, Herr Kardinal"

Ja, bekennt Marx, auch er gehöre zu denen, die in der Vergangenheit nicht "zuhören" wollten. Doch was heißt das genau? Etwas konkreter wurde er einen Tag vor der Pressekonferenz bei einem kurzen Statement: Es stimme, sagte er da, dass früher nicht jeder Vorgang in den Akten gelandet sei. Daran habe er selbst "Erinnerungen". Aber konkret vorzuwerfen habe er sich nichts. Als er sich zum ersten Mal mit dem Thema Missbrauch konfrontiert sah, habe er sich die Dinge ja nicht einmal vorstellen können, von denen da die Rede war. "Natürlich kann man jetzt sagen: Sie sind naiv, Herr Kardinal."

Ob dem wirklich so ist? Oder ob Marx mehr wusste, als er jetzt zugibt? Die Studie ist bei der Beantwortung der Frage jedenfalls keine Hilfe.

Und dann gibt es am Ende der Pressekonferenz doch noch den einen Moment, der den Zustand des deutschen Katholizismus, ja den der Weltkirche auf den Punkt bringt und zeigt, was von der Wendepunkt-Rhetorik wirklich zu halten ist. Gefragt nämlich, ob einer der 60 Bischöfe und Weihbischöfe, die in Fulda versammelt sind, aufgrund persönlicher Schuld oder eines drückenden Verantwortungsgefühls seinen Rücktritt in Erwägung gezogen habe, antwortet Reinhard Kardinal Marx nur mit einem Wort: "Nein."