Nicky41
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Theologische Standpunkte der Heiligen Hildegard

Für Hildegard von Bingen steht in allen ihren Werken der Mensch im Mittelpunkt: „Denn der Mensch ist bedeutender als alle übrigen Geschöpfe, die doch von der Struktur der Welt abhängig bleiben. An Statur ist dieser Mensch zwar klein, an Kräften des geistigen Vermögens jedoch gewaltig“. Doch nie existiert er isoliert, immer ist er ein Teil des Kosmos mit dem er in einer wechselseitigen Verbindung steht. Dabei kommt dem Menschen eine große Verantwortung zu: Durch gute Taten soll er Gott im kreativen Schaffen an der Schöpfung unterstützen. Er dient damit nicht nur seinem eigenen Seelenheil, sondern auch dem Heil der gesamten Schöpfung. Die Gabe der Vernunft ermöglicht es den Menschen, Gut und Böse zu unterscheiden und frei zwischen ihnen zu wählen. Sowohl der Liber vitae meritorum als auch ihr Singspiel Ordo virtutum haben diesen Kampf der Laster gegen die Tugenden zum Thema, dem jeder Mensch ständig ausgesetzt ist – sie sollen zu guten Taten motivieren und vor den Lastern und Sünden warnen.

Im Gegensatz zu den Vorstellungen ihrer Lehrerin Jutta und vieler ihrer Zeitgenossen ist Hildegards Theologie nicht leibfeindlich. Der Körper wird gegenüber der Seele nicht abgewertet; Leib und Seele bilden eine Einheit. Anders als die damalige Schultheologie postulierte, sah sie die Frau nicht als minderwertig an, sondern als ebenbürtig, denn Mann und Frau könnten nur zusammen wirken:

„Und Gott gab der Liebe des Mannes Gestalt, und so ist die Frau die Liebe des Mannes. (…) Und darum wird eine einzige Liebe sein, und nur so sollte es sein in der Liebe zwischen Mann und Frau und nicht anders“.

Die Verbindung des dreieinigen Gottes – Vater, Sohn und Heiliger Geist – mit allen Teilen seiner Schöpfung ist ein weiterer zentraler Punkt in der Botschaft der Prophetin. Die Dreifaltigkeit Gottes sieht sie überall in der Welt im Kleinen abgebildet. Die Liebe Gottes zu seiner Schöpfung wird in der Menschwerdung des Sohnes gegenwärtig. Doch nach Hildegards Anschauung lag der Grund dafür nicht in der Ursünde, sondern war schon immer Gottes Wille: „Als Gott (…) die Welt erschuf, hatte er schon in Seinem ewigen Ratschluss festgesetzt, dass Er Mensch werden wollte“. Hierin wich sie wieder von der Meinung der Schultheologie ab. Mit Christus kamen die Kirche und die Sakramente in die Welt, mit deren Hilfe die Gläubigen Anteil an dem von Christus erwirkten Heil erlangen können. Die Kirche symbolisiert für Hildegard die Gemeinschaft der Gläubigen, die die Menschwerdung von Gottes Sohn erkennen. In den Visionen erscheint die Kirche als gebärende Frau, die durch die Taufe ständig neues Leben erschafft. Neben der Taufe kommt der Firmung und der Eucharistie eine besondere Bedeutung zu: Erstere bestärkt die Gläubigen durch die Kraft des Heiligen Geistes im Wirken guter Taten, während in der Eucharistie Christi Heilswerk gegenwärtig wird.

Hildegards Theologie unterscheidet sich grundlegend von der gelehrten Theologie, denn sie kann ihre Erkenntnisse direkt auf die göttliche Offenbarung zurückführen, die ihr in ihren Visionen zuteil wird. Dafür benötigt sie keine fachlichen Begriffe, sondern entwickelt eine bemerkenswerte Bildsprache, die durch die begleitenden Deutungen erhellt wird. In ihren Aussagen ist sie meist traditionell, in der Art und Weise der Vermittlung originell: Die bekannten Bibelmotive gewinnen durch ihre bildhafte Sprache einen neuen Glanz.
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Hildegards Theologie unterscheidet sich grundlegend von der gelehrten Theologie, denn sie kann ihre Erkenntnisse direkt auf die göttliche Offenbarung zurückführen, die ihr in ihren Visionen zuteil wird.