EINGRENZUNG DER GEWALT DURCH GEWALT
Die Bibel und die Lehre der Kirche gehen davon aus, dass es zwei unterschiedlich zu bewertende Formen von Gewalt gibt: eine rechtmäßige Gewalt, die gewöhnlich „potestas“ (Macht) genannt wird, und eine unrechtmäßige Gewalt, die gewöhnlich „violentia“ genannt wird. Der [...] spricht über den zweiten Typ der Gewalt, die „aggressive Gewalt“. Ich möchte etwas zum …Mehr
EINGRENZUNG DER GEWALT DURCH GEWALT
Die Bibel und die Lehre der Kirche gehen davon aus, dass es zwei unterschiedlich zu bewertende Formen von Gewalt gibt: eine rechtmäßige Gewalt, die gewöhnlich „potestas“ (Macht) genannt wird, und eine unrechtmäßige Gewalt, die gewöhnlich „violentia“ genannt wird. Der [...] spricht über den zweiten Typ der Gewalt, die „aggressive Gewalt“. Ich möchte etwas zum ersten Typ, der rechtmäßigen Gewalt sagen, weil auch ihre Beurteilung für das Verständnis des Christentums – gerade in unserer Zeit – wichtig ist.
Im Hintergrund der Unterscheidung steht das Dilemma von Recht und Gewalt. Einerseits soll die Gewalt durch das Recht überwunden werden. Anderseits ist dies aber nur möglich, wenn das Recht mit Gewalt ausgestattet wird. „Denn was könnte gegen Gewalt ohne Gewalt getan werden“, fragt Cicero (Epistolae ad familiares XII,3). Eine Gesellschaft, in der es Freiheit und Gesetz gibt, aber keine Gewalt, die dem Gesetz Anerkennung verschaffen könnte, bezeichnet Immanuel Kant als Anarchie. Innerhalb des Alten Testaments wird uns eine solche Gesellschaft im Buch der Richter vor Augen geführt. Das Volk ist in die Freiheit und in das Land geführt worden, ihm wurde das Gesetz, die Tora, gegeben, aber es fehlte eine Gewalt, die dem Gesetz Geltung verschafft: „In jenen Tagen gab es noch keinen König in Israel; jeder tat, was ihm gefiel“ (Ri 21,25 u.ö.). Es herrscht Anarchie. Ri 17-21 erzählt von eklatanten Verstößen gegen das Gesetz (Massentötungen und Frauenraub usw.) und plädiert damit für das Königtum (modern gesprochen: für den Staat), näherhin für das davidische Königtum, d.h. für eine Instanz, die dem Recht Geltung verschafft. In Ps 72, dem „Testament Davids an seinen Sohn und Nachfolger Salomo“ (in der Überschrift muss es „für Salomo“, nicht „von Salomo“ heißen!), wird uns ein solcher König vor Augen gestellt: Es soll ein König sein, der das Volk in Gerechtigkeit regiert, der den Gebeugten Recht verschafft und der den Gewalttätigen zermalmt. Was hier beschrieben wird ist der Sache nach die Idee des modernen Rechtsstaates: Die Gewalt wird monopolisiert und an das Recht gebunden. Deshalb weist der Berliner Historiker Heinrich August Winkler darauf hin, dass „das normative Projekt des Westens“ nicht ohne den jüdisch-christlichen Monotheismus verstanden werden kann (Geschichte des Westens, Bd. I, München 2009, 25-46). Damit das Recht nicht nur „leere Anpreisung“ (Kant) bleibt, muss es also mit Gewalt ausgestattet sein.
RÜCKGRIFF AUF DAS ALTE TESTAMENT
Diese Anwendung rechtmäßiger Gewalt hat die katholische Kirche nie infrage gestellt. Sie steht damit in bester biblischer Tradition. In der Gestalt der Blutrache, die in Gesellschaften ohne Zentralgewalt eine später vom Staat übernommene Aufgabe übernimmt, wird sie sogar von Gott nach dem urgeschichtlichen Brudermord gestiftet (Gen 4,15). Ihr Kerngedanke lautet: Eingrenzung der Gewalt durch Androhung und Anwendung rechtmäßiger Gewalt.
Das Alte Testament befasst sich über weite Strecken mit diesem Thema. Davon wird durch das Neue Testament nichts zurückgenommen. Im 13. Kapitel des Römerbriefes gibt Paulus zu erkennen, dass er selbstverständlich in dieser Tradition steht, wenn schreibt: „Denn es gibt keine Gewalt (potestas), die nicht von Gott stammt … Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie steht im Dienste Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der Böses tut.“ Aus dem letzten Satz geht eindeutig hervor, dass die ganze Argumentation nur dann dem christlichen Glauben entspricht, wenn die staatliche Gewalt an das Recht gebunden bleibt: „Vor den Trägern der Macht hat sich nicht die gute, sondern die böse Tat zu fürchten“ (Röm 13,3). Offen bleibt die Frage nach der Berechtigung des Tyrannenmordes, die später Thomas von Aquin ausführlich und differenziert behandelt. Paulus war also nicht der Ansicht, dass die Ausübung rechtmäßiger, staatlicher Gewalt der Botschaft Jesu widerspreche.