Das Größte und Schönste will man dem katholischen Volk und seinen Priestern rauben

(Auszug aus einem Text von Erzbischof Vigano vom 15.1. 2022)
"Ihr, die ihr euch erlaubt, die apostolische Heilige Messe zu verbieten, habt ihr sie jemals zelebriert? Ihr, die ihr von euren hohen liturgischen Lehrstühlen aus scharfe Urteile über die „alte Messe“ sprecht, habt ihr jemals über ihre Gebete, ihre Riten, ihre uralten und heiligen Gesten nachgedacht?
Ich habe mir diese Frage in den vergangenen Jahren mehrmals gestellt, weil ich selbst, der ich diese Messe seit meiner Kindheit kannte und, als Ministrant, als ich noch kurze Hosen trug, gelernt hatte, auf den Zelebranten zu antworten, sie fast vergessen und verloren hatte. Introibo ad altare Dei. Im Winter vor dem Weg zur Schule auf den eisigen Stufen des Altars knien. In der Hitze mancher Sommertage schwitze ich unter meinem Gewand als Meßdiener. Ich hatte diese Messe vergessen, die auch die meiner Priesterweihe am 24. März 1968 war: eine Zeit, in der man bereits die Zeichen der Revolution spüren konnte, die die Kirche bald ihres wertvollsten Schatzes berauben würde, um einen gefälschten Ritus einzuführen.

Meine Entscheidung, die Skandale der amerikanischen Prälaten und der Römischen Kurie anzuprangern, hat mich dazu gebracht, nicht nur meine Rolle als Erzbischof und Apostolischer Nuntius in einem anderen Licht zu betrachten, sondern auch die Seele dieses Priestertums, das der Dienst zuerst im Vatikan und dann in den Vereinigten Staaten irgendwie unvollständig gelassen hatte: mehr wegen meines Priesterseins als wegen des Amtes. Und was ich bis dahin nicht verstanden hatte, wurde mir durch einen scheinbar unerwarteten Umstand klar, als meine persönliche Sicherheit in Gefahr zu sein schien und ich mich trotz allem gezwungen sah, fast im Untergrund zu leben, weit weg von den Palästen der Kurie. Damals führte mich diese gesegnete Absonderung, die ich heute als eine Art mönchische Entscheidung betrachte, zur Wiederentdeckung der heiligen tridentinischen Messe. Ich erinnere mich gut an den Tag, an dem ich anstelle der üblichen Kasel das traditionelle Gewand mit dem Ambrosianischen Cappino und dem Manipel trug: Ich erinnere mich an die Befürchtungen, die ich empfand, als ich nach fast fünfzig Jahren die Gebete aus dem Meßbuch aussprach, und die mir wieder aus dem Mund kamen, als hätte ich sie noch bis vor kurzem rezitiert. Confitemini Domino, quoniam bonus, anstelle des Psalms Judica me, Deus des Römischen Ritus. Munda cor meum ac labia mea. Es waren nicht mehr die Worte des Meßdieners oder des jungen Seminaristen, sondern die Worte des Zelebranten, die Worte von mir, der ich zum ersten Mal wieder vor der Allerheiligsten Dreifaltigkeit zelebrierte. Denn es stimmt zwar, daß der Priester eine Person ist, die im Wesentlichen für andere lebt – für Gott und für den Nächsten -, aber es stimmt auch, daß sein Apostolat so unfruchtbar ist wie eine klingende Zimbel, wenn er sich seiner eigenen Identität nicht bewußt ist und seine eigene Heiligkeit nicht pflegt.
Ich bin mir bewußt, daß diese Überlegungen jene teilnahmslos lassen, wenn nicht sogar Mitleid erregen, die nie die Gnade hatten, die überlieferte Messe zu feiern. Aber das Gleiche passiert jenen, so stelle ich es mir vor, die noch nie verliebt waren und die die Begeisterung und die keusche Hinwendung des Geliebten zu seiner Geliebten nicht verstehen, denen, die die Freude nicht kennen, sich in ihren Augen zu verlieren. Der graue römische Liturgiker, der Prälat mit seinem maßgeschneiderten Clergyman und dem Brustkreuz in der Tasche, der Consultor einer Kongregation mit der neuesten Ausgabe von Concilium oder Civiltà Cattolica in der Hand, betrachten die Messe des hl. Pius V. mit den Augen des Entomologen (jener Wissenschaft, die Insekten studiert), der eine Perikope unter die Lupe nimmt wie ein Naturforscher die Adern eines Blattes oder die Flügel eines Schmetterlings. In der Tat frage ich mich manchmal, ob sie das nicht mit der Asepsis [Keimfreiheit] eines Pathologen tun, der mit dem Skalpell in einen lebenden Körper schneidet. Aber wenn ein Priester mit einem Mindestmaß an innerem Leben sich der überlieferten Messe nähert, unabhängig davon, ob er sie schon einmal gekannt hat oder sie zum ersten Mal entdeckt, wird er von der geordneten Majestät des Ritus tief bewegt, als ob er aus der Zeit hinaustritt und in die Ewigkeit Gottes hinein.
Ich möchte meinen Mitbrüdern im Bischofs- und Priesteramt verständlich machen, daß diese Messe an sich göttlich ist, weil man in ihr das Heilige auf eine ganz intuitive Weise wahrnimmt: Man wird buchstäblich in den Himmel entrückt, in die Gegenwart der Allerheiligsten Dreifaltigkeit und des himmlischen Hofes, weit weg vom Lärm der Welt. Sie ist ein Liebeslied, in dem die Wiederholung der Zeichen, Ehrerbietungen und heiligen Worte nichts Unnützes an sich hat, so wie die Mutter nicht müde wird, ihr Kind zu küssen, und die Braut ihrem Bräutigam immer wieder „Ich liebe dich“ zu sagen. Alles ist vergessen, denn alles, was dort gesagt und gesungen wird, ist ewig, alle Gesten, die dort ausgeführt werden, sind immerwährend, außerhalb der Geschichte und doch eingebettet in ein Kontinuum, das den Abendmahlssaal, den Kalvarienberg und den Altar, auf dem sie zelebriert wird, vereint. Der Zelebrant wendet sich nicht an die Versammlung, um verständlich zu sein oder sich sympathisch zu machen oder à la page [auf dem Laufenden] zu erscheinen, sondern an Gott: Und vor Gott gibt es nur das Gefühl der unendlichen Dankbarkeit für das Privileg, die Gebete des christlichen Volkes, die Freuden und Sorgen so vieler Seelen, die Sünden und Fehler derer, die um Vergebung und Barmherzigkeit flehen, die Dankbarkeit für die empfangenen Gnaden und die Fürbitten für unsere lieben Verstorbenen mittragen zu dürfen. Man ist allein, und gleichzeitig doch eng verbunden mit einer unendlichen Schar von Seelen, die Zeit und Raum umspannen.
Wenn ich die apostolische Messe zelebriere, denke ich daran, daß auf demselben Altar, der mit den Reliquien der Märtyrer geweiht ist, schon viele Heilige und Tausende von Priestern zelebriert haben, indem sie dieselben Worte gebraucht haben wie ich, dieselben Gesten wiederholten, die gleichen Verbeugungen und Kniebeugen machten und dieselben Gewänder trugen. Vor allem aber haben sie mit demselben Leib und Blut unseres Herrn kommuniziert, dem wir alle uns durch die Darbringung des heiligen Opfers gleichgemacht haben. Wenn ich die Messe zelebriere, erkenne ich auf die erhabenste und vollständigste Weise die wahre Bedeutung dessen, was die Lehre [die kath. Kirche] uns lehrt. Das Handeln in persona Christi ist keine mechanische Wiederholung einer Formel, sondern das Wissen, daß mein Mund dieselben Worte spricht, die der Erlöser im Abendmahlssaal über Brot und Wein gesprochen hat; daß ich, wenn ich Hostie und Kelch zum Vater erhebe, die Opferung wiederhole, die Christus am Kreuz vollzogen hat; daß ich bei der Kommunion das Sühneopfer zu mir nehme und mich von Gott ernähre, und nicht an irgendeinem Festchen teilnehme. Und mit mir ist die ganze Kirche: die triumphierende Kirche, die sich meinem flehenden Gebet anschließt, die leidende Kirche, die darauf wartet, den Aufenthalt der Seelen im Fegefeuer zu verkürzen, die kämpferische Kirche, die sich im täglichen geistlichen Kampf stärkt. Wenn aber, wie wir im Glauben bekennen, unser Mund der Mund Christi ist, wenn unsere Worte bei der Konsekration die Worte Christi sind, wenn die Hände, mit denen wir die heilige Hostie und den Kelch berühren, die Hände Christi sind, welche Ehrfurcht sollten wir dann vor unserem Körper haben und ihn rein und unversehrt halten? Gibt es einen besseren Anreiz, in der Gnade Gottes zu bleiben? Mundamini, qui fertis vasa Domini [Haltet euch rein, denn ihr tragt die Geräte des Herrn, Jes 52,11]. Und mit den Worten des Missale: Aufer a nobis, quæsumus, Domine, iniquitates nostras: ut ad sancta sanctorum puris mereamur mentibus introire [Herr, wir bitten Dich: Nimm unsere Sünden von uns weg und laß uns mit reiner Seele ins Allerheiligste eingehen, Gebet des Priesters beim Aufstieg zum Altar]."