Oenipontanus
2592

Ein Lied des Diakons Simon des Töpfers

Dieses wunderbare Erzeugnis aramäisch-christlicher Dichtkunst stammt von Simon von Gêšîr, genannt "qūqāyā" - "der Töpfer", der im 5./6. Jahrhundert lebte und ein Zeitgenosse des berühmten Jakob von Sarug war.
Beim Übersetzen habe ich mich bemüht, noch näher am aramäischen Original zu bleiben, als dies bei der - vorzüglichen! - deutschen Übersetzung von Hw. Sebastian Euringer der Fall ist.
Widmen möchte ich diesen Beitrag der verehrten @Ischa Ischa Ischa!

Erste (Antiphon) nach der Melodie des Apostels Paulus

Es flog Gabriel mit Flügeln des Geistes aus der Höhe
und brachte einen Brief von seinem Herrn,
damit er bringe den Gruß (šlāmā) zu Maria.
Er öffnete ihn und las ihn und sprach zu ihr:
„Mein Herr ist mit dir und aus dir strahlt er hervor!
Oben auf dem Thron habe ich ihn zurückgelassen
und hier bei dir finde ich ihn!“
Gesegnet sei der, vor dem in der Höhe und in der Tiefe
die Engel lobpreisen!

„Friede (šlāmā), Friede den Fernen und den Nahen!“
schrie der Prophet im Geiste der Heiligkeit
zum ganzen Geschlechte des Hauses Adam.
Der Friede ist Gott (ʾalāhā),
der zu uns kam und Leib wurde.
Ehre sei ihm, der so sehr erniedrigt hat
seine Großartigkeit unseretwegen.
Und er ward aus uns nach unserer Ähnlichkeit,
aber von der Seite seines Vaters wich er nicht.

Befriede, o unser Herr, deine Kirche in den vier (Welt-)gegenden
und entferne aus ihr die Streitigkeiten
und die Spaltungen und die bösen Risse (= Schismen oder Häresien)
und versammle ihre Kinder inmitten ihres Schoßes
im Glauben der Wahrheit
und setze in sie Hirten,
die sie weiden gemäß deinem Willen.
Und mit dir möge sie sich freuen im Königreich
von der Rechten deines Senders aus.

(Übersetzung: Oenipontanus)

Quelle: Sebastian Euringer, Die neun „Töpferlieder“ des Simeon von Gêšîr, in: Oriens Christianus n.s. 3 (1913) 221–235, hier: 224 (aramäischer Text), 225 (deutsche Übersetzung).

Bildnachweis: redd.it/dnnfotpq98p61.png
Ischa Ischa Ischa
@Oenipontanus: Soeben habe ich mir diesen wunderbaren Text abgeschrieben. Wie aktuell!! Vielleicht zu allen Zeiten, aber jetzt und in Deutschland besonders. Danke.
Ischa Ischa Ischa
@Oenipontanus: oh, die Widmung rührt mich an. Danke! Ich drucke mir alle Ihre Übersetzungen aus, weil sie so schön und tief sind.
"Aus dir strahlt er (mein Herr) hervor" entspricht übrigens einer (bislang nicht edierten) Selbstcharakterisierung der schwangeren Maria: "Licht strahlt aus meinem Leib hervor". Was für eine Kraft!