Joseph Ratzinger über Dogmengeschichte und -evolution
Joseph Ratzinger hat seine Anschauungen hinsichtlich Geschichtlichkeit und "Evolution" der katholischen Dogmen in einer kleinen, wenig rezipierten Schrift aus dem Jahr 1966 niedergelegt, aus der ich einige Auszüge als Leseprobe mitteile. Michael Seewald, Dogmatikprofessor in Münster, hat in seinem Buch "Dogma im Wandel" (Freiburg: Herder, 2018, S. 256-257) Ratzingers Ansatz folgendermaßen beurteilt: "Ratzinger legt hier einen hoch dynamischen Ansatz der Dogmenentwicklung vor. Natürlich ist er weit davon entfernt, Dogmen zu einer beliebig modellierbaren Masse zu erklären. Aber er relativiert das Dogma aus zwei Perspektiven: aus der der "geschichtlich relativen Welt der Menschen", die in einem Dogma als anthropogener, menschengemachter Formel ihre geschichtlich konkrete, kontingente "Glaubenserkenntnis" ausdrücken, und aus Sichtweise der Sache, zu der das Dogma nur eine "Wegweisung" zu sein hat. ... Wer Ratzingers Denken also vorschnell als kontinuitätstheoretisch einhegt und nur das bewahrende Moment seiner Theologie betrachtet, nimmt nur einen Teil seines Ansatzes in den Blick und macht diesen großen Denker kleiner, als er in Wahrheit ist."
Nun aber möge Ratzinger selbst zu Wort kommen:
„Wie wir hörten, war und ist eines der Haupthindernisse, innerhalb der katholischen Theologie zu einem positiven geschichtlichen Verständnis des Christlichen zu kommen, das Axiom vom Offenbarungsabschluß mit dem Tod des letzten Apostels. Daß dieses Axiom in dieser Gestalt nicht zu den ursprünglichen Gegebenheiten des christlichen Bewußtseons gehört, kann man sehr leicht an der Tatsache erkennen, daß man im Altertum unbedenklich von der Inspiration der ökumenischen Konzilien gesprochen hat und im ganzen Mittelalter von Offenbarungen des Heiligen Geistes redete, durch welche die Kirche in Erkenntnisse eindringe, die ihr bisher verschlossen waren. … Bei der Rede vom Offenbarungsabschluß mit dem Tod des letzten Apostels wird Offenbarung der Sache nach als eine Summe von Lehren aufgefaßt, die Gott der Menschheit mitgeteilt habe und deren Mitteilung eines Tages abgeschlossen worden wäre, womit zugleich die Summe der Offenbarungslehren ihre Grenze gefunden hätte; … Eine solche Auffassung steht nicht nur einem sinnvollen Verständnis der geschichtlichen Entfaltung des Christlichen im Wege; sie widerspricht auch den Gegebenheiten des biblischen Zeugnisses. … Offenbarung ist im biblischen Bereich nicht begriffen als ein System von Sätzen, sondern als das geschehene und im Glauben immer noch geschehende Ereignis einer neuen Relation zwischen Gott und dem Menschen. … Die Formeln, in denen sich dieses Ereignis lehrmäßig expliziert, sind von da aus gesehen schon nicht mehr eigentlich die Offenbarung selbst, sondern eben ihre Explikation in menschliche Rede hinein.
…
Tatsächlich hat der Versuch, das nicht in der Schrift enthaltene Dogma auf apostolische Überlieferung zurückzuführen, je gründlicher es historisch unternommen wurde, desto deutlicher zu dem Ergebnis geführt, daß es eine solche Reduzierbarkeit des Dogmas auf den apostolischen Anfang nicht gibt: In Wirklichkeit sind uns über die Schrift hinaus keine nachweisbar auf das apostolische Zeitalter zurückgehenden Nachrichten verblieben, was bei den Gesetzlichkeiten menschlichen Überlieferns und menschlicher Geschichte niemand wunder nehmen kann. In der Tat ist der geschichtsfeindliche Gedanke ungeschriebener apostolischer Einzelüberlieferungen zunächst wesentlich in der Gnosis zu Hause, also in einer von der Geschichte des Glaubens als heterodox ausgeschiedenen Entfaltungsform des Christlichen, auch wenn er verhältnismäßig früh ins kirchliche Denken einzudringen begann.“ (S. 18–20)
„Jeder dogmatischen Formel wohnt … ein doppeltes Ungenügen inne: auf der einen Seite ihr Abstand von der Wirklichkeit, die sie auszudrücken versucht; auf der anderen Seite ihre Teilhabe an der geschichtlich bestimmten und geschichtlich relativen Welt der Menschen, die in dieser Formel ihre Glaubenserkenntnis ausgedrückt haben. Das mindert die totale Endgültigkeit der Formel, ohne die Endgültigkeit der in ihr gemeinten Sache und damit auch den bleibenden Anspruch der Formel aufzuheben, wenn er ohne falschen Verbalismus verstanden wird als Wegweisung auf die Sache selbst, die sprachlich nie erschöpfend zur Formulierung kommt. (S. 25)
Quelle: Joseph Ratzinger, Das Problem der Dogmengeschichte in der Sicht der katholischen Theologie. Köln und Opladen: Westdeutscher Verlag, 1966.
Nun aber möge Ratzinger selbst zu Wort kommen:
„Wie wir hörten, war und ist eines der Haupthindernisse, innerhalb der katholischen Theologie zu einem positiven geschichtlichen Verständnis des Christlichen zu kommen, das Axiom vom Offenbarungsabschluß mit dem Tod des letzten Apostels. Daß dieses Axiom in dieser Gestalt nicht zu den ursprünglichen Gegebenheiten des christlichen Bewußtseons gehört, kann man sehr leicht an der Tatsache erkennen, daß man im Altertum unbedenklich von der Inspiration der ökumenischen Konzilien gesprochen hat und im ganzen Mittelalter von Offenbarungen des Heiligen Geistes redete, durch welche die Kirche in Erkenntnisse eindringe, die ihr bisher verschlossen waren. … Bei der Rede vom Offenbarungsabschluß mit dem Tod des letzten Apostels wird Offenbarung der Sache nach als eine Summe von Lehren aufgefaßt, die Gott der Menschheit mitgeteilt habe und deren Mitteilung eines Tages abgeschlossen worden wäre, womit zugleich die Summe der Offenbarungslehren ihre Grenze gefunden hätte; … Eine solche Auffassung steht nicht nur einem sinnvollen Verständnis der geschichtlichen Entfaltung des Christlichen im Wege; sie widerspricht auch den Gegebenheiten des biblischen Zeugnisses. … Offenbarung ist im biblischen Bereich nicht begriffen als ein System von Sätzen, sondern als das geschehene und im Glauben immer noch geschehende Ereignis einer neuen Relation zwischen Gott und dem Menschen. … Die Formeln, in denen sich dieses Ereignis lehrmäßig expliziert, sind von da aus gesehen schon nicht mehr eigentlich die Offenbarung selbst, sondern eben ihre Explikation in menschliche Rede hinein.
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Tatsächlich hat der Versuch, das nicht in der Schrift enthaltene Dogma auf apostolische Überlieferung zurückzuführen, je gründlicher es historisch unternommen wurde, desto deutlicher zu dem Ergebnis geführt, daß es eine solche Reduzierbarkeit des Dogmas auf den apostolischen Anfang nicht gibt: In Wirklichkeit sind uns über die Schrift hinaus keine nachweisbar auf das apostolische Zeitalter zurückgehenden Nachrichten verblieben, was bei den Gesetzlichkeiten menschlichen Überlieferns und menschlicher Geschichte niemand wunder nehmen kann. In der Tat ist der geschichtsfeindliche Gedanke ungeschriebener apostolischer Einzelüberlieferungen zunächst wesentlich in der Gnosis zu Hause, also in einer von der Geschichte des Glaubens als heterodox ausgeschiedenen Entfaltungsform des Christlichen, auch wenn er verhältnismäßig früh ins kirchliche Denken einzudringen begann.“ (S. 18–20)
„Jeder dogmatischen Formel wohnt … ein doppeltes Ungenügen inne: auf der einen Seite ihr Abstand von der Wirklichkeit, die sie auszudrücken versucht; auf der anderen Seite ihre Teilhabe an der geschichtlich bestimmten und geschichtlich relativen Welt der Menschen, die in dieser Formel ihre Glaubenserkenntnis ausgedrückt haben. Das mindert die totale Endgültigkeit der Formel, ohne die Endgültigkeit der in ihr gemeinten Sache und damit auch den bleibenden Anspruch der Formel aufzuheben, wenn er ohne falschen Verbalismus verstanden wird als Wegweisung auf die Sache selbst, die sprachlich nie erschöpfend zur Formulierung kommt. (S. 25)
Quelle: Joseph Ratzinger, Das Problem der Dogmengeschichte in der Sicht der katholischen Theologie. Köln und Opladen: Westdeutscher Verlag, 1966.