Forschung

Zellen eines vor Jahrzehnten abgetriebenen Fötus dienen Corona-Impfstoff

Dem kanadischen Forscher Frank Graham gelang es 1973 an der Universität von Leiden in den Niederlanden, die Zellen zu transformieren.

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Dem kanadischen Forscher Frank Graham gelang es 1973 an der Universität von Leiden in den Niederlanden, die Zellen zu transformieren.
Dem kanadischen Forscher Frank Graham gelang es 1973 an der Universität von Leiden in den Niederlanden, die Zellen zu transformieren.Imago Images/Andrew Brookes

Es ist kein Geheimnis: Tausende Medizinlabore auf der ganzen Welt nutzen zur Entwicklung von Medikamenten und Impfungen Zellen eines vor Jahrzehnten abgetriebenen Fötus. Doch durch die Forschung an einer Immunisierung und einer Therapie gegen Covid-19 erfährt diese Tatsache neue Aufmerksamkeit, denn auch hier sind die Zellen im Einsatz. Anfang Oktober protestierten Abtreibungsgegner in den USA gegen die Verwendung, sie halten sie für ethisch inakzeptabel.

Der Mediziner Andrea Gambotto weist diese Kritik zurück. „Es wäre ein Verbrechen, die Zellen nicht zu nutzen“, sagt Gambotto, der an der Universität Pittsburgh an Impfungen forscht. Seit 25 Jahren verwendet er dabei die Zellen mit der Bezeichnung HEK 293. „Sie haben nie jemandem Schaden zugefügt. Zellen aus einem toten Embryo werden für die Forschung verwendet, anstatt weggeworfen zu werden“, argumentiert der Wissenschaftler.

Der Vorteil der Zellen, die Anfang der 1970er Jahre „unsterblich“ gemacht wurden, sei, dass sie in der pharmazeutischen Industrie Standard seien, erklärt Gambotto. Sollte es ihm selbst eines Tages gelingen, in seinem Labor einen Impfstoff gegen Covid-19 zu entwickeln, werde jede Fabrik dank HEK 293 in der Lage sein, ihn in großem Maßstab herzustellen. Eine Alternative zu der Zelllinie zu entwickeln, hält der Mediziner für überflüssig: „Warum soll man das Rad neu erfinden?“

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Dem kanadischen Forscher Frank Graham gelang es 1973 an der Universität von Leiden in den Niederlanden, die Zellen zu transformieren. Normalerweise ist die Zahl der Teilungen einer Zelle endlich. Graham jedoch modifizierte die Zellen so, dass sie sich immer weiter teilen. Es klappte beim 293. Versuch – daher die Bezeichnung der Zelle. HEK steht für „human embryonic kidney cells“, menschliche embryonale Nierenzellen.

„Damals war es nicht ungewöhnlich, fetales Gewebe zu verwenden“, sagt Frank Graham, jetzt emeritierter Professor der McMaster University in Kanada. „Abtreibung war in den Niederlanden bis 1984 illegal, außer um das Leben der Mutter zu retten. Deshalb habe ich immer angenommen, dass die im Leidener Labor verwendeten Zellen von einem therapeutischen Schwangerschaftsabbruch stammten“.

Impfstoffentwickler verwenden gern HEK 293, weil die Zellen formbar sind und sich in kleine Virenfabriken verwandeln lassen. Um Viren zu züchten, braucht man eine Wirtszelle. Das kann ein Hühnerei sein, aber in der Humanmedizin werden menschliche Zellen bevorzugt.

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Die Viren werden für eine Art von Impfstoff benötigt, bei denen ein abgeschwächtes und verändertes Virus verabreicht wird. Im Fall von Covid-19 verwenden mehrere Labore HEK 293-Zellen, um mutierte und harmlose Viren zu produzieren, die auf ihrer Oberfläche die typischen Spitzen des Coronavirus aufweisen. Wird dieses Virus Menschen gespritzt, produziert das Immunsystem Antikörper, die Schutz vor einer Infektion mit dem echten Coronavirus bieten.

Drei der weit fortgeschrittenen Impfstoffprojekte verwenden HEK 293: Das der Pharmafirma AstraZeneca in Zusammenarbeit mit der Universität Oxford, das des chinesischen Unternehmens CanSino und das des russischen Gamaleya-Instituts. Andere Firmen, zum Beispiel Pfizer und Regeneron benutzen es, um „falsche Coronaviren“ herzustellen, mit denen sie ihre Impfstoffe oder Medikamente testen.

Auch Impfstoffe gegen Ebola und Tuberkulose wurden bereits anhand von HEK 293 entwickelt. „Für mich ist es eine große Genugtuung, dass die Zellen, die ich vor fast 50 Jahren geschaffen habe, bei vielen Fortschritten in der biomedizinischen Forschung eine wichtige Rolle gespielt haben“, sagt Graham. Zur Kritik am Ursprung der Zellen will er sich nicht äußern.