Gastkommentar

Nach 15 Jahren Merkel ist die CDU ohne Kompass

Die CDU ist inhaltlich ruiniert. Folge einer Schaukelpolitik vom Mindestlohn bis zum Atomausstieg, von der missratenen Energiewende bis zum jüngsten 500-Milliarden-Euro-Schwenk in der europäischen Finanzpolitik. Vom Wirtschafts- und Industriestandort Deutschland reden nur noch wenige.

Hans-Hermann Tiedje 245 Kommentare
Drucken
Überprüfbar gut hat Angela Merkel dem Land 2009 getan, in der grossen Finanzkrise, als sie über Monate vieles entschied – das meiste war richtig.

Überprüfbar gut hat Angela Merkel dem Land 2009 getan, in der grossen Finanzkrise, als sie über Monate vieles entschied – das meiste war richtig.

Markus Schreiber / AP

Es war alles perfekt geplant: Angela Merkel, am Ende ihrer Zeit, und Annegret Kramp-Karrenbauer, mit den Nerven am Ende, machen Platz für einen neuen starken Mann in der CDU: Merz, Spahn, Laschet oder Röttgen. Die Kandidaten liefen sich warm, das Publikum war interessiert. Dann kam Corona, und über Nacht lief alles anders. Die Kanzlerin, die ihre Partei an den Abgrund gewirtschaftet hatte, wurde binnen kurzem reanimiert. Angst breitete sich aus im Land, von Merkel und Gesundheitsminister Spahn perfekt gemanagt. Virologische Experten, die zunächst einhellig den Gebrauch von Masken ablehnten, um ihn kurz darauf vehement zu fordern, fluteten das Fernsehen und schütten das Publikum seither zu mit Zahlen, die allesamt falsch sind, weil die Bezugsgrössen fehlen.

In der Stunde der Not schart sich die Masse um das Alphatier. Merkel hat Deutschland seit 15 Jahren, diskret unterstützt von geneigten Medien, umgewandelt in ein Heim für betreutes Leben. Und bei Corona hat sie es – wieder vor gütiger Medienkulisse – dann dichtgemacht. Der deutsche Mensch will offenbar vom Staat an die Hand genommen werden, er hat nichts gegen Führung, auch wenn diese ihm den Friseurbesuch verbietet oder das Sitzen auf der Parkbank. So landet die Union bei fast 40 Prozent Zustimmung, und Merkel gelangte zu unerwarteter neuer Kraft.

Aber sie geht demnächst in ihr letztes Jahr als Kanzlerin, und die Würdigungen werden schon formuliert. Zutreffend ist: Trotz höchsten Steuern ist Deutschland immer noch eine Gesellschaft im Überfluss. Wo das Land aber stünde, wenn Merkel Kohls Europapolitik und Schröders Reformagenda fortgesetzt hätte, ist nur zu ahnen. Stattdessen Wohlfühlpolitik von der Mütterrente bis zum Gute-Kita-Gesetz. Und nun, angesichts der Corona-Pandemie, beispiellose staatliche Hilfsprogramme für eine völlig verunsicherte Gesellschaft, die glücklich ist über die Zuwendungen und Fragen komplett ausblendet wie: Wer soll das bezahlen – ausser den Reichen und dem Mittelstand? Und was kommt da auf uns zu – spätestens im Herbst? Eine ganze Abfolge von Firmenpleiten und Massenarbeitslosigkeit. Kredite ersetzen keinen Umsatz, wie man noch sehen wird.

Nicht alternativlos, aber unverzeihlich

Abgesehen von den Folgen der Corona-Krise liegt nach 15 Jahren Merkel vieles im Argen, vor allem der gesellschaftliche Konsens, die Glaubwürdigkeit der Politik und die normierte Sprache in manchen Medien. Das Land war schon vor Corona kaputt. Allerdings auf hohem Niveau. Und die CDU ist ein Torso. Wer hätte es vor zwanzig Jahren für möglich gehalten, dass diese Partei sich derart selbst verzwergt, dass sie den Kandidaten der umbenannten SED (heute: Linke) zum Ministerpräsidenten des Bundeslandes Thüringen macht? Dass sie in Mecklenburg-Vorpommern eine Verfassungsfeindin zur Verfassungsrichterin mitwählt? Alles nicht alternativlos, aber unverzeihlich.

Die Partei ist mittlerweile ohne Kompass – Folge einer Schaukelpolitik vom Mindestlohn bis zum Atomausstieg, von der missratenen Energiewende bis zum jüngsten 500-Milliarden-Euro-Schwenk in der europäischen Finanzpolitik: Die einzige wirkliche Konstante in Merkels Wirken ist, dass sie als Kanzlerin alles Mögliche anders gemacht hat als vorher von ihr als Parteichefin versprochen und dass die Wähler es nicht bemerkt haben. Höhepunkt der Camouflage war die als «Flüchtlingspolitik» verkaufte Massenzuwanderung mit etwa 80 Prozent Wirtschaftsmigranten, für die man die Grenzen angeblich nicht schliessen konnte, was bei Corona dann aber doch über Nacht geschah. Bei der Pandemie konnte man sogar die Grenzen von Bundesländern dichtmachen.

Alternativlos war nichts, wie sich herausstellte, aber manches unverzeihlich. Das Ergebnis reicht von der Existenz der AfD bis zum Brexit, der auch geschah aus Abneigung gegen Merkels und Europas Willkommenskultur. Gerade werden beide von den Fehlern dieser Politik wieder eingeholt, siehe Lesbos, Samos, Kos.

Wer sich mit dem Zeitgeist vermählt

Aber was ist das für ein Land, das eine solche Serie politischer Fehlentscheidungen aushält? Es ist jenes Land, das fast sechs Jahre einen Zweiten Weltkrieg aushielt und in dem die deutsche Reichspost noch im April 1945 Pakete auslieferte. Dieses Land ist heute eine Mediokratie voller Hysterie und Gesinnungsschnüffelei. Es ist das Land der ständig schrumpfenden früheren Volkspartei SPD, die ehedem Schumacher, Brandt, Schmidt und Schröder hatte und heute vom Duo Esken/Walter-Borjans geführt wird: die Dame mit dem Charme der Leiterin einer Gefängniswäscherei, der Mann eine Idealbesetzung als Chef der Essensausgabe. Adieu SPD!

Zurück zur CDU. Helmut Kohl regierte 16 Jahre gegen einen Mediensturm. Merkel wird seit 15 Jahren getragen vom Wohlwollen der Journaille und des Justemilieu. Kierkegaard wusste: Wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, wird schnell Witwer sein. Bei Merkel hat das lange dennoch funktioniert. Sie war «Klimakanzlerin», vorher Umweltministerin – was hat sie in diesen Funktionen bewirkt oder verhindert? Auf jeden Fall nicht, dass eine Greta auftauchte. Sie hat sich zusehends eingelassen mit den Planern der Volksbeglückung, die jetzt, im grünen Design, die Themen Umwelt und Klima bestimmen.

Vor dem Hintergrund von Corona ist die Forderung nach einem grundsätzlichen Nachhaltigkeitsvorbehalt in der Verfassung nicht mehr weit. Am Ausgang wartet der grüne Zertifizierer, den alle Gesetze passieren müssen – das wäre das Ende der klassischen Demokratie. Vom Wirtschafts- und Industriestandort Deutschland reden nur noch wenige. Die FDP dringt damit nicht durch. Wahrscheinlich kann der deutsche Mensch mit dem Liberalismus nichts anfangen, leider.

Das Aussteige-Prinzip

Bei so vielen verlorenen Jahren ist es mittlerweile fast egal, ob noch eineinhalb dazukommen. Was Merkel praktiziert hat? Vor allem Aussteigen. Aus dem Diesel, aus der Bundeswehr, aus dem Verbrennungsmotor, aus der Gentechnologie, aus dem Individualverkehr. Überprüfbar gut hat die Kanzlerin dem Land nur 2009 getan, in der grossen Finanzkrise, als sie über Monate vieles entschied – das meiste war richtig.

Auffällig selten nimmt Merkel den Namen Kohl in den Mund. Ohne ihn wäre sie politisch nichts. Vielleicht eine anerkannte Physikerin. Zu den Kanzlern: Adenauer stand für Westverankerung, Erhard für Marktwirtschaft, Brandt für die Ostpolitik, Schmidt für Nato-Treue und Doppelbeschluss, Kohl für die Umsetzung des Doppelbeschlusses, deutsche Einheit und Euro, Schröder für die Agenda 2010. Hat jemand eine Idee, wofür Angela Merkel steht?

Nur nicht an den Osten erinnert werden.

In ihrer Kanzlerschaft hat sich Deutschland von den USA abgekoppelt (und umgekehrt), erfüllt Deutschland seine Nato-Verpflichtungen nicht, Kohls Projekt Europa steht still, die deutsch-französische Freundschaft ist keine mehr, mit Grossbritannien ist der beste Verbündete raus aus der EU, und Russlands Putin wird von Merkel geschwächt – nicht zum Vorteil Deutschlands.

Kohl hatte die frühe Ahnung – dass der deutsche Osten sich schnell auf seine Herkunft besinnt. Das schien ihm ein Problem zu werden – es wurde ein Problem. Mitteldeutschland gehört genau wie Polen, Baltikum, Ungarn mit deren Minderheiten zu dem Teil Europas, der Russland näher ist. Was ist die Antwort Merkels darauf? Keine. Nur nicht an den Osten erinnert werden. Das Problem hinterlässt sie ihrem Nachfolger.

Vor Merkel war die CDU eine im Kern christlich-konservative Partei mit einem sozialen Flügel. Dem Staat hatte das gutgetan. Heute steht alles von liberal bis konservativ unter Rechtsverdacht. Die AfD liefert dem Mainstream den Vorwand, zu denunzieren. Von Neo Rauch bis Sloterdijk, von Alice Schwarzer bis Baselitz, von Monika Maron bis Dieter Nuhr – und vor kurzem sogar Hans Magnus Enzensberger, der sich Gedanken darüber machte, wie viel Afrikaner Europa noch aufnehmen könne, und der äusserte, das internationale Seerecht komme aus dem Mittelalter und die sogenannte Seenotrettung sei ein «Geschäft». Österreichs Kanzler Kurz sagt das auch. Warum kann Merkel das nicht?

Die Kanzlerin sagt auch nicht, was die Deutschen von den Franzosen lernen könnten, nämlich: wie man afrikanische und arabische Migration in 120 Jahren nicht bewältigt bekommt. Weder Sarkozy noch Macron sind schuld an der Integrationsunwilligkeit vieler Maghrebiner. Welchen Schluss zieht Merkel daraus? Man weiss es nicht.

Was bleibt

Am Ende ihrer Zeit kann die Kanzlerin konstatieren: Für sie persönlich waren es 15 gute, erfolgreiche Jahre. «Mächtigste Frau der Welt», bei «Time» Person des Jahres, trotz Anti-Israel-Resolutionen in der Uno der Leo-Baeck-Preis, zig Doktorhüte. Ihre Partei, die CDU, blieb inhaltlich auf der Strecke. Trotz den momentanen 40 Prozent: Der Weg vom Helden zum Sündenbock ist kurz, auch für Merkel, manchmal dauert er keine drei Monate, wenn der Einsturz der Wirtschaft offenbar ist und das ganze Corona-Desaster öffentlich.

Dann wird über die Frage diskutiert, warum Taiwan und Südkorea aus Sars und Schweinegrippe Konsequenzen zogen wie beispielsweise Tracking-Apps und warum Deutschland so etwas bis heute nicht hat. Und ob die Politik in Sachen Corona nicht die teuerste Fehlentscheidung des Jahrhunderts war. Die Toten werden bekanntlich nach der Schlacht gezählt, und diese dauert noch an.

Hans-Hermann Tiedje war Chefredaktor von «Bild» und persönlicher Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl. Er ist Aufsichtsratsvorsitzender der Kommunikationsagentur WMP Eurocom AG in Berlin.

245 Kommentare
Wolfgang Schuster

Sehr zutreffender Artikel. Gott sei Dank, gibt es die NZZ, denn in Deutschland würde der Kommentar von den allbekannten Medienhäusern nicht abgedruckt. Eine breite Streuung in Deutschland wäre deshalb wünschenswert. Danke Herr Tiedje. 

Rainer Mrochen

Endlich, endlich diese seit langem überfällige Generalabrechnung. Danke NZZ. Wer sich selbst permanent in die Tasche lügt, bekommt am Ende die Rechnung serviert.