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P. Recktenwald - Spaemann über die Erscheinung des Seins

Die Naturwissenschaften können Subjektivität niemals erforschen. Das Sein einer Person offenbart sich, so Spaemann, nur dem Wohlwollen.

„Sein ist das, was sich nur dem Wohlwollen offenbart“, schreibt Spaemann in „Glück und Wohlwollen“. Wenn man solche Sätze liest, ist man versucht zu denken: Das hört sich schön und geistreich an, aber so ganz ernst sollte man es nicht nehmen: eine fromme Übertreibung, die als Wunsch der rauen Wirklichkeit des Lebens gegenübersteht. In dieser Wirklichkeit geht das Wohlwollen oft unter, stattdessen setzt Rücksichtslosigkeit sich durch. Das Sein ist dem Wohlwollen feindlich gesinnt.

Das Gegenteil ist der Fall! Die Aussagen Spaemanns treffen präzise zu. Was er hier mit „Sein“ meint, wird klarer, wenn wir das Vorausgehende bedenken: „Wirklichkeit ist keine objektive Eigenschaft von irgendetwas, Existenz kein ,reales Prädikat‘, wie Kant sagt.“ Die objektiven Eigenschaften sind das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, was auch Tiere sehen, riechen oder hören können. Hier sind wir noch in der Welt dessen, was Kant als Erscheinung dem Ding an sich gegenübergestellt hat. Es ist jene Wirklichkeit, auf die wir als Triebwesen reagieren und die wir mit den Tieren gemeinsam haben.

Personales, unbedingte Achtung einforderndes Selbstsein

"Der Mensch ist der Ort der Erscheinung des Seins. Unbedingte Achtung vor dem Menschen ist gleichbedeutend mit Zustimmung zur Wirklichkeit.“ Hier kommt das Eigentümliche des Menschen und der ihm korrespondierende Seinsbegriff ins Spiel. Sein ist personales, unbedingte Achtung einforderndes Selbstsein. Dieses Sein erscheint nicht den Sinnen. Das Tier mit seinen Sinnen kann niemals Ort seiner Erscheinung sein, sondern allein der Mensch als Vernunftwesen. „Was erscheint in der Subjektivität? Sein, Wirklichkeit. Und zwar gerade deshalb, weil Subjektivität selbst nicht Positivität, sondern Negativität ist, nicht vorfindbares Faktum, sondern Reflexion.“

Der Fehler des Naturalismus besteht darin, beides, Erkenntnissubjekt und -objekt, als vorfindbare Fakten zu interpretieren: hier das Gehirn, dort die Stimuli, die via Sinnesorgane auf es einwirken. Die Kognitionswissenschaften können nach diesem Modell die Vorgänge noch so detailliert erforschen: Niemals stoßen sie dabei auf Erkenntnis, sondern immer nur auf physische Kausalität.

Dem naturwissenschaftlichen Zugriff ewig verborgen

Subjektivität ist Subjektivität, und als solche niemals ein Faktum, auf das wir einfachhin stoßen, das sich uns aufdrängt. Fremde Subjektivität ist jene Wirklichkeit, deren Erscheinungsort allein unsere Subjektivität sein kann und die sich uns erschließt in einem freien Akt der Anerkennung. Deshalb bleibt Subjektivität (eigene und fremde) dem naturwissenschaftlichen Zugriff ewig verborgen. Keine noch so vollständige Erforschung des Gehirns wird dort jemals auf Subjektivität, sprich: Personsein stoßen. Aber gerade die Wirklichkeit der Person ist „die unzweideutige Wirklichkeit“. Wie wird mir diese Wirklichkeit wirklich? Nicht durch Beobachtung, Sektion und Experiment, sondern durch jene Form von Liebe, die wir Wohlwollen nennen. „In der Liebe wird mir der Andere nun so wirklich, wie ich mir selbst in eben diesem Erwachen werde.“

Liebe bleibt hier nicht ein angenehmes Gefühl, sondern wird zu einer wirklichkeitserschließenden Kraft. Nur in diesem unsentimentalem Sinne dürfen wir ja auch von Gott aussagen, dass er Liebe sei. Gott ist jene Wirklichkeit, aufgrund derer Spaemann die zuletzt zitierte Aussage mit der Wendung fortsetzen kann: „Er und ich gewinnen die Wirklichkeit des Bildes.“ Der einzelne Mensch ist kontingentes Bild des Urbildes, das seinerseits jeder Kontingenz enthoben ist. Die Geltung des moralischen Anspruchs, der von der Würde des Menschen ausgeht, hängt nicht ab von dessen Kontingenz, sondern partizipiert an der Unbedingtheit des in ihm erscheinenden Urbildes.