«Der andere Blick»: Die Selbstverzwergung der CDU ist atemberaubend (nzz.ch)

6. Januar 2022
Der andere Blick
von Alexander Kissler
Redaktor der «Neuen Zürcher Zeitung» in Berlin

Imago
In einem Vakuum gibt es keine festen Objekte. Was in der Physik gilt, gilt in der Politik erst recht. Deutschland erlebt gerade ein doppeltes Machtvakuum. Der Bundeskanzler ist im Amt, aber er spricht nicht. Aus Olaf Scholz, der mit vielen Worten wenig zu sagen versteht, wurde Scholz, der Schweigsame. An diesem Donnerstag hat er immerhin die Sternsinger empfangen. Dramatischer ist die innere Leere der CDU. Weder dem amtierenden, aber scheidenden Vorsitzenden Laschet noch seinem künftigen, aber noch nicht bestätigten Nachfolger Merz gelingt es, aus der langjährigen Regierungs- eine stolze Oppositionspartei zu machen. Die Selbstverzwergung der CDU ist atemberaubend.
Ein würdeloses Schauspiel
Nichts kann die Ambitionslosigkeit der CDU besser illustrieren als die Geschwindigkeit, mit der sie die eigenen Fahnen bei der Frage nach dem nächsten Bundespräsidenten wieder einrollte. Noch Anfang Dezember hatte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst erklärt, die Union solle eine Frau für Schloss Bellevue nominieren. Schon da war klar: Wenn SPD, Grüne und FDP für Frank-Walter Steinmeier votieren, wird seine Wiederwahl nicht zu verhindern sein.
Vier Wochen später merkt es auch die CDU. Statt dennoch gemeinsam mit der CSU einen Gegenkandidaten aufzustellen, flocht man dem Amtsinhaber einen reichlich unglaubwürdigen Kranz: Steinmeier werde über Parteigrenzen hinweg geschätzt (Generalsekretär Ziemiak), er stehe für Zusammenhalt (Laschet) und habe sein Amt «seriös, integrativ und überparteilich ausgefüllt» – so der CSU-Chef Markus Söder. Man werde den Wahlleuten in der Bundesversammlung empfehlen, für Steinmeier zu stimmen. Die Wahrheit hinter dem würdelosen Schauspiel ist: Die CDU will lieber unsichtbar sein, als im politischen Kampf Ablehnung zu riskieren. Sie will lieber nichts tun als das möglicherweise Falsche – und tut so erst recht das Falsche. Parteiintern wuchs sich die Kritik am fehlenden Gestaltungswillen zum Sturm aus. Dennis Radtke, Mitglied des Europäischen Parlaments, Exponent des Arbeitnehmerflügels, erklärte, es hätte «mit Blick auf Steinmeier auch ausgereicht, Enthaltung von CDU und CSU anzukündigen». Schliesslich habe Steinmeier in seiner Rede zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit Helmut Kohl, den Kanzler der Einheit, nicht erwähnt. Der ehemalige brandenburgische Bundestagsabgeordnete Sebastian Steineke nennt Steinmeiers Leistungen als Präsident «nicht überzeugend». Der Verzicht auf eine Empfehlung wäre der richtige Weg gewesen, wenn man schon keine eigene Kandidatin ins Rennen schicke. Auch in der Mittelstandsvereinigung MIT rumort es.
Der Fall Maassen wird zur Posse
Was Merz von alledem hält? Man weiss es nicht genau. Söder liess lediglich in originellem Deutsch verlauten, das Votum der Union für Steinmeier sei nach einer «Rücksprache von Friedrich Merz» erfolgt. Auch wie sich Merz in der Causa Maassen verhält, die mehr und mehr zur Posse wird, bleibt der Spekulation überlassen. Seit geraumer Zeit üben die für den Bundesvorstand kandidierende schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien und der gescheiterte Thüringer Direktkandidat für den Bundestag ein öffentliches Fingerhakeln, ohne dass es eine Gaudi wäre. Wechselseitig wähnt man sich in der falschen Partei. Prien fordert den Parteiausschluss des ehemaligen Präsidenten des Verfassungsschutzes. Maassen hatte in den sozialen Netzwerken ein Video des Mikrobiologen Sucharit Bhakdi geteilt, in dem dieser die Impfung von Kindern mit deren Erschiessung vergleicht. Maassen wiederum hat es Prien nicht verziehen, dass sie indirekt zur Wahl des SPD-Konkurrenten in Maassens Wahlkreis aufrief. Der offenbar unbeherrschbare Streit um Maassen, ein einfaches Parteimitglied ohne Amt und Mandat, zeigt, wie unsouverän, wie orientierungslos, wie defensiv die CDU derzeit agiert. Laschet macht eine traurige Figur, Merz noch gar keine. So verständlich es ist, dass ein von den Mitgliedern gewählter, bisher nicht vom Bundesparteitag bestätigter Vorsitzender nur mit gebremstem Schaum agieren kann: Dieses Interregnum schadet der CDU, der ganzen Union und der Bundespolitik massiv.
Während die neue Regierung um ihren Kurs in der Pandemie ringt, ohne ihn gefunden zu haben, fallen CDU und CSU als Korrektiv aus. Wer die Nabelschau einer kraftvollen Opposition vorzieht, wer lieber schweigt, als anzuecken, der wird noch lange in der Opposition bleiben.