Neue Studie sieht „akute Gefahr“: 40 Prozent der Pflegekräfte wollen kündigen

Fast die Hälfte der Pflegenden erwägen demnach, ihren Job an den Nagel zu hängen. Dann würde das deutsche Gesundheitssystem kollabieren.

Da gingen sie noch für ihre Interessen auf die Straße (im Bild: Demonstranten vor dem Bundeskanzleramt im Mai 2021) – inzwischen wollen viele Pflegekräfte einfach nur noch den Job wechseln.
Da gingen sie noch für ihre Interessen auf die Straße (im Bild: Demonstranten vor dem Bundeskanzleramt im Mai 2021) – inzwischen wollen viele Pflegekräfte einfach nur noch den Job wechseln.imago

Berlin - Die Zahlen werden immer höher, der Unmut steigt: Waren es bei einer Umfrage im Frühjahr 2021 noch etwa 30 Prozent der beruflich Pflegenden, die ihren Job aufgeben wollten, so ist in einer neu veröffentlichten Studie nun schon von 40 Prozent die Rede. Der Grund: Überlastung und Corona.

Die Arbeitsbedingungen schon vorher belasteter Pflegekräfte haben sich durch die Sars-CoV-2-Pandemie weiter verschärft – und tun es offenbar immer noch. Den Wunsch, ihren Beruf aufzugeben, äußern immer mehr Befragte. Wissenschaftler der Alice-Salomon-Hochschule Berlin (ASH) haben für eine Studie 2700 Pflegepersonen zu Veränderungen ihrer Arbeitsfähigkeit und beruflichen Gratifikationskrisen in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie befragt. Von einer Gratifikationskrise wird gesprochen, wenn Menschen im Berufsleben über einen längeren Zeitraum eine hohe Verausgabung bei gleichzeitig zu geringer Belohnung empfinden.

Das Ergebnis: 40 Prozent der befragten Pflegenden geben an, mindestens monatlich daran zu denken, den Pflegeberuf zu verlassen. Rund 30 Prozent überlegen monatlich, den Arbeitsplatz zu wechseln, rund ein Drittel will die Arbeitszeit reduzieren.

Die Studie zeigt, dass Pflegende einen sehr hohen Aufwand leisten, etwa durch hohen Zeitdruck und viel Verantwortung, um eine moderate Belohnung zu erhalten – zum Beispiel Anerkennung, Arbeitsplatzsicherheit oder eine höhere Entlohnung. Dieses Missverhältnis zwischen Aufwand und Belohnung gilt als größter Einflussfaktor auf die Absichten eines Berufsausstiegs oder Arbeitgeberwechsels.

Die Studie wurde Ende Dezember 2021 in der Fachzeitschrift „Das Gesundheitswesen“ erstveröffentlicht und von den Professoren Johannes Gräske und Katja Boguth geleitet, die beide an der ASH in Berlin lehren. Gräske schlussfolgert: „Sowohl der Politik als auch den Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen scheint es bisher nicht gelungen zu sein, dem Bedürfnis der Berufsgruppe nach mehr Anerkennung und Belohnung zu entsprechen.“ Die Gesundheitspolitik müsse deshalb sowohl Belohnungsanreize setzen als auch die Belastungen der Pflegenden nachhaltig senken – und letzteres sei noch viel dringender. Nur so könne das „ungünstige“ Verhältnis von Aufwand und Belohnung korrigiert werden und der Wunsch, den Beruf zu verlassen, würde an Bedeutung verlieren. Gräske warnt deutlich: „Wenn die Pflegenden ihre Ausstiegsabsichten realisieren, besteht für das deutsche Gesundheitssystem akute Gefahr für einen Zusammenbruch. In der Pandemie hat die Berufsgruppe den Kollaps bisher verhindert.“

Für die Datenerhebung haben die Wissenschaftler alle deutschen Krankenhäuser sowie alle Langzeiteinrichtungen und ambulanten Pflegedienste angeschrieben und binnen zwei Monaten Pflegende aus allen Bereichen (Klinik, Langzeitpflege, ambulante Pflege) mittels Online-Erhebung zu ihren Gratifikationskrisen, Arbeitsfähigkeit und nach beruflichen Veränderungen befragt. Insgesamt haben 2689 Pflegende an der Studie teilgenommen.

Allerdings stammen die Daten aus Mai bis Juli 2021, also aus der ersten Welle. Da wir uns mittlerweile schon in der vierten Welle befinden, ist wohl anzunehmen, dass diese Zahlen eher noch gestiegen als gesunken sind.