Auch wenn die Leipziger Buchmesse für dieses Jahr abgesagt wurde, kamen doch in einigen Buchhandlungen Autoren zu Wort: "Leipzig – liest". Einer der Inhaber zu seinen ersten Gästen: "Da – dieser Stapel, das ist der alte Roman 'Die Pest' von Albert Camus; er hat neuerdings wieder guten Absatz."

"Die Pest" ist ein Klassiker der Weltliteratur. (Meine Ausgabe ist ein rororo Taschenbuch des Jahres 1953). Der Verfasser erhielt 1957 den Nobelpreis für sein literarisches Werk. Die Wucht der Erzählung kann leider durch die folgende Inhaltsangabe allerdings nur verwässert werden.

Camus möchte in einer Chronik dokumentieren, wie "sich 194…" die Pestseuche in der Stadt Oran an der algerischen Küste ausbreitete. Dr. Bernard Rieux ist die Zentralfigur des Geschehens. Es beginnt, als eines Morgens einige tote Ratten im Flur seines Hauses liegen, die er nichts ahnend mit dem Fuß beiseiteschiebt. Alle Hoffnung auf die moderne Medizin und Hygiene können ihr kaum Einhalt gebieten. Zug um Zug wird die ganze Stadt von der Epidemie erfaßt und fordert Hunderte von Todesopfern. Doch mit Mut, Widerstandskraft und Nächstenliebe bekämpft der Arzt das Fiasko.

Später führt Camus den katholischen Priester Paneloux ein, um die Relevanz von Religion zu erörtern. In einem Gespräch Dr. Rieux‘ mit dem jungen, politisch engagierten Tarrou fällt dessen Name. Und der Mediziner macht keinen Hehl aus seinem Atheismus: Wenn er selbst an einen allmächtigen Gott glaubte, würde er aufhören, die Menschen zu heilen; er könnte diese Sorge ihm überlassen. Dann: "Da die Weltordnung durch den Tod bestimmt wird, ist es vielleicht besser für Gott, wenn man nicht an ihn glaubt und dafür mit aller Kraft gegen den Tod kämpft, ohne die Augen zu dem Himmel zu erheben, wo er schweigt."

Unermüdliche Solidarität

Angesichts der gegenwärtigen Corona-Pandemie haben Politik und Gesellschaft alle Kräfte zu ihrer Eindämmung und Überwindung gebündelt. Einsatz wie Eifer sind beispiellos und musterhaft. Die Medien überschlagen sich, Informationen vorzutragen, zur Vorsicht zu mahnen, Maßnahmen der Politiker weiterzureichen. In der Führungsetage eines Pharma-Konzerns mußte ein Vorsitzender den Hut nehmen, weil er beim Suchen eines Impfstoffes die europäischen Interessen mißachtet hatte. Der atemlose Kampf von Bernard Rieux gegen die Pest scheint sich heute zu wiederholen – nicht im algerischen Oran, sondern weltweit. Doch treibt uns auch die gleiche Motivation, wie sie Camus Protagonist erkennen läßt? Sind in der Corona-Pandemie die Augen nicht zum Himmel zu erheben und ist von Gott bitte zu schweigen, weil ja auch er schweigt?

In den veröffentlichten Statements der deutschen Bischöfe überwiegen Dankbarkeit gegenüber Ärzten und Helfern, Ermutigung zur Verfügbarkeit im Dienst am Nächsten und Bestärkung in humanitärer Disziplin. Etwa: Es sei eine schlimme Nachricht, daß die aktuelle Lage keine öffentlichen Gottesdienste mehr zulasse. Doch seien Solidarität und Vorsicht geboten. Das Ansteckungsrisiko sei zu vermindern, besonders bei Kranken, gegenüber Alten und Schwachen. Die Katholiken werden aufgerufen, Verständnis zu zeigen. Die Kirche sei Teil der Gesellschaft und müsse ihren Beitrag leisten. So oder ähnlich klingen die Anweisungen, mit denen die geweihten Hirten den Ausfall der Gottesdienste bekannt machen.

Geistliche Impulse kann man in den Verlautbarungen nur mit Mühe entdecken. Da und dort kommt die Anregung zum Gebet. Das Wort "Gott" wird fast immer vermieden. Generell herrscht ein nüchterne-sachliche Verordnungsstil. Obschon doch die Gläubigen ein wenig Licht aus dem Glauben fraglos nötig hätten. Die gesellschaftlichen Medien gehen ja allein den greifbaren Daten und Ursachenketten nach. Können denn diese allein das Phänomen in Gänze deuten? Rufen sie nicht nach Ergänzung?

Erinnerung und Erkenntnis

Die kirchliche Tradition hat in Seuchen mehr gesehen als eine technische Herausforderung. Sie kennt viele Situationen menschlicher Bedrängnis, in denen sich der laute Notschrei zu Gott erhob. Er durchdrang Deutschland vor allem, als unser Land von der Pest heimgesucht wurde. Der "Schwarze Tod" schlug immer wieder zu, vom 14. bis zum 19. Jahrhundert. Weil Glaubende ihr Leben und Schicksal nicht ohne den Allmächtigen deuteten, flehten sie Gott an in ihrem Elend. Und sie beschworen ihn, indem sie Maßnahmen und Übungen ausdachten, die sie tiefer in Glaube und Gott verankern sollten. Manche von ihnen wurden auch als wiederkehrende Bitte um Schutz für die Zukunft gelobt. So kam es zu Bräuchen, die sich teils bis heute durchgetragen haben. Etwa die Passionsspiele in Oberammergau, die in diesen Tagen wieder in aller Munde sind. Als 8o Einwohner des Dorfes 1633 der Seuche zum Opfer gefallen waren, versprachen die Überlebenden: Sie wollten alle zehn Jahre das "Leiden und Sterben Jesu Christi" aufführen; sie wollten durch ein Schauspiel auch als Mitwirkende eine tiefe, innere Begegnung mit Christi Passion selbst erfahren und eine Begegnung mit ihm vielen andern Menschen ermöglichen. Von 1634 an wurde im Ort kein Pesttoter mehr verzeichnet.

Andernorts entstanden in Deutschland Gottesdienste und Prozessionen aus derselben Hinwendung zu Gott; nur wenige können hier erwähnt werden: Passionsspiele in Markt Schierling/Bayern, im unterfränkischen Sömmersdorf, in Oberschwarzach bei Schweinfurt, Hallenberg im Hochsauerland oder Amberg nahe Nürnberg. Auch die in ganz Europa errichteten "Pest-Kreuze" bekunden dieselbe Bitte und den gleichen Dank. Ich habe persönlich zwei von ihnen aus meinem Heimatort in Erinnerung, die leider inzwischen dem Straßenbau zum Opfer fielen.

Solcher Glaube veranlaßte auch Papst Franziskus am 3. Fastensonntag 2020, die Quarantäne des Vatikans zu verlassen und in Rom über die Via del Corso zur Kirche San Marcello zu gehen. Er besuchte in ihr ein uraltes Kruzifix. Der Gekreuzigte half nach der Überzeugung der Römer im Jahr 1522, die Stadt von der Pest zu befreien. Schon Papst Johannes Paul II. hatte sich ihn im Heiligen Jahr 2000 zum Erweis besonderer Verehrung gewählt – nicht in Qualen einer Epidemie, sondern beim großen Schuldbekenntnis unter der Last der kirchlichen Sünde: Am ersten Fastensonntag umarmte er ihn am Hauptalter der Vatikanischen Basilika. In seinem sehr persönlichen Gebet erbat er, stark zu sein für den Lebenskampf. Dann heißt es: "Oft denke ich leider nicht an deinen Schmerz und trage dir nur den meinen vor. Und du legst deine Hand auf mich und tröstest mich. Heile meine Wunden mit deiner Liebe; nimm mich in deine Arme und laß mich dein Herz spüren, das brennt in Liebe zu mir."

Ganz ohne Frage ist es die Erfahrung von Ohnmacht und Mühsal, die uns zu Christus treibt. Der Volksmund bringt es auf die knappe Formel: "Not lehrt beten". In der Nähe des Erlösers kann sich dann jedoch unsere bekümmerte Bitte wandeln. Christi Liebe ergreift uns neu. Und vielleicht wird die Begegnung mit seiner Liebe zur Anfrage an die eigene Liebe. Plötzlich werden wir unserer eigenen Erlösungsbedürftigkeit inne, und sie erschüttert uns. Der Apostel Petrus hat das beispielhaft erlebt.

Bei der Berufung der ersten Jünger am See Genezareth erkennt Simon nach dem wunderbaren Fang etwas von der Macht und Göttlichkeit des Jesus von Nazareth. Verwirrung befällt ihn. Doch seine eigene Erbärmlichkeit verleitet ihn nicht, sich in sich in sein Ich zu verkriechen. Er sucht den Herrn, fällt ihm zu Füßen und bittet – paradoxerweise; denn er brauchte doch gerade seine Nähe: "Herr, geh weg von mir; ich bin ein Sünder" (Lk 5, 1-8). Sein Blick des Glaubens zielt auf die Gemeinschaft mit dem Herrn; angesichts von Christi Heiligkeit aber gewahrt er das Ausmaß seiner Schuld. So können jeden Glaubenden Betroffenheit und Ratlosigkeit – je nach Umständen - innerlich aufbrechen. Dann mag er aus Gnade den Vater im Himmel um Erlösung und Bekehrung anflehen.

Kerker der Immanenz

Da und dort wurde die Frage geäußert, ob Gott in der Pandemie auf unsere Sünden antworte. Die Frage weckte wütende Kritik und lauten Protest. Ein Bischof äußerte: "Coronavirus als Strafe Gottes zu bezeichnen, ist zynisch." Das Verdikt träfe fraglos zu, würde man bei jedem einzelnen Infizierten das Siechtum auf eine persönliche Sünde zurückführen; das Johannes-Evangelium sagt ja bei der Heilung des Blindgeborenen eindeutig, nicht alle Krankheit hat ihren Grund in der menschlichen Sünde (Joh 9,1ff.). Doch Gottes Wort bekundet andererseits auch klar, daß Gott-widriges Leben Krankheit nach sich ziehen kann. Verläßliche Exegeten stellen fest: "Krankheit ist der Sünde Sold" (W. Stählin). So lehrt es etwa die Perikope von der Heilung des Gelähmten in Kafarnaum, die die Verknüpfung von Krankheit und Sünde unabweisbar macht (Mk 2,1ff.). Augenfälliger noch ist die Beschuldigung des Paulus, Glieder der Gemeinde von Korinth würden den Leib des Herrn unwürdig empfangen; und aus diesem Grunde "sind unter euch viele schwach und krank" (1 Kor 11,30). Schließlich ist dem Apostel freilich auch Gottes Eingriff zur Heilung vor Augen: Nicht allein durch irdische Hilfe widerstand sein Mitstreiter Epaphroditus einer lebensbedrohenden Krankheit. Es "war Gott, der sich seiner erbarmt hat" (Phil 2,26f.). Demnach schließt die Bibel bei Fällen von Krankheit und Heilung Gott nicht aus. Ein Nexus kann auch für die Pandemie nicht gestrichen werden. Noch viel verderblicher als solche Korrektur des Gotteswortes wirkt sich dann aber eine Philanthropie aus, die Gott die Züchtigung überhaupt untersagt: "Die Vorstellung. von einer göttlichen Bestrafung gehört nicht zur christlichen Vision – auch nicht in so einer dramatischen Situation, wie wir sie gerade erleben" (Radio Vatikan deutsch, 8. März 2020).

Wer Gottes Liebe so vollmundig entstellt, der verurteilt zornig die Volksfrömmigkeit von Jahrhunderten. Er hat Gottes Wort gegen sich, in dem es heißt: "Gott behandelt euch wie Söhne. Denn wo ist ein Sohn, den sein Vater nicht züchtigt" (Hebr. 12,7)? Und was am tiefsten bestürzt: Solche Tröster verschließen nicht nur Kirchtüren, sondern den Himmel. Gott ist aber nicht apathisch.

Unser Auftrag

Wie gut, daß der Bischof von Ars, Pascal Roland, die Seuche anders kommentierte. Sie habe eine kollektive Panik erzeugt und unsere verzerrte Beziehung zur Realität des Todes enthüllt. Dann seine Frage, die nach noch tieferen Motiven forscht:

"Zeigt sie nicht die beunruhigenden Auswirkungen des Verlusts von Gott? Wir wollen die Tatsache verbergen, dass wir sterblich sind, und weil wir uns verschlossen haben in die geistige Tiefe unseres Ichs, verlieren wir uns."

Glaubende machen sich fraglos wie alle Zeitgenossen die hygienischen, medizinischen und politischen Vorstöße gegen die Epidemie zu eigen. Für Fachleute ist dabei irdische Eindimensionalität unumgänglich. Doch heilsgeschichtliches Denken läßt sich nicht auf Diesseits-Praktisches verkürzen. Christen sind gerufen, Empirisches zu hinterfragen. Wenn Medikamente fehlen, wenn Krankenhausbetten nicht ausreichen, wenn Zwangsisolation jemanden mit unbestimmter Angst und mit seiner eigenen Ohnmacht bedrückt – dann durchschauen viele die Brüchigkeit aller menschlichen Hilfen. Der Christ mag hierauf vielleicht die Nähe Gottes suchen und sich ihm – im Augenblick der Gnade wie Petrus – neu ausliefern. Bischof Pascal von Ars hat die richtige Frage gestellt.

In seinem Roman "Die Pest" beschreibt Albert Camus einen Heroen, der aus eigener Kraft einer Stadt den Lebenswillen erhält und einen Großteil ihrer Bewohner vor dem Tod bewahrt. An einer Schlüsselstelle des Romans sagt dieser Dr. Rieux im Namen des Dichters: "Kann man ohne Gott ein heiliger sein; das ist das einzig wirkliche Problem, das ich heute kenne." Camus will auf ihn verzichten. Mehr noch: Er hält es für geboten, zu verhindern, daß Helfer der Menschheit auf Gott setzen.

Obwohl doch "Pest" und "Corona-Pandemie" uns Menschen letztlich darum quälen, weil sich Gott verhüllt hat! Jedenfalls lehrt das der heilige Johannes Paul II.: Er hat in seinen Mittwochs-Audienzen vor Jahren schon über den Jeremia des Alten Bundes gesprochen, einem Mann voll leidenschaftlichen Mitgefühls für sein Volk und Gottes unbeugsamer Zeuge. Der Prophet tritt in einer seiner Klagen vor uns hin - niedergedrückt vom grauenhaften Leid, das die Seinen getroffen hat: Es herrscht lebensbedrohender Hunger als Folge der Dürre; zum Himmel schreit das Feld der Leichen, die der Krieg auftürmte. Jeremia ist tränenüberströmt, als er beides beschreibt. Und Johannes Paul II. dringt weiter ein in den Text: Bedrohung und Zerstörung unseres Lebens wären noch nicht die schlimmste aller Tragödien, die uns betreffen könnten. Es gäbe eine noch größere Katastrophe. Jeremias Frage drücke sie aus: "Hast du denn Juda ganz verworfen, wurde dir Zion zum Abscheu"? Dann nimmt der Papst gleichsam Dr. Rieux‘ Wort aus der "Pest" wieder auf und seufzt, die schrecklichste Not des Menschen sei "die des Schweigens Gottes, der sich nicht mehr offenbart und sich scheinbar in seinem Himmel eingeschlossen hat, so als sei er des menschlichen Tuns überdrüssig". Aus diesem Grunde fühlten sich so viele Menschen allein gelassen, verloren und voller Furcht (Anm. Katechese am 11. 12. 2002, zu Jeremia 14, 17-21).

Corvid-19 nötigt uns Christen, zu Gott zu rufen und ihn zu verkünden – um den Glauben in uns selbst zu stärken und ihn unter den Zeitgenossen nicht aussterben zu lassen – und wären wir auch nur ein "Heiliger Rest" (Jes 4,3).

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