Nach Notfallzulassung eines Pestizids: Bienenkiller außer Kontrolle

Agrarministerin Klöckner erlaubte ein für Bienen hochgiftiges, von der EU verbotenes Pestizid. Jetzt verbreitet es sich unkontrolliert in der Umwelt.

Zuckerrübe

Für solche Zuckerrüben benutzen manche Bauern Saatgut, das mit Pestiziden ummantelt ist Foto: Nathan Laine/Hans Lucas/imago

BERLIN taz | Nachdem Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) ein für Bienen hochgiftiges Pestizid ausnahmsweise erlaubt hat, verbreitet es sich unkontrolliert in der Umwelt. Imker und Naturschützer in Bayern haben große Mengen des Wirkstoffs Thiamethoxam und seines Abbauprodukts, des ebenfalls als Pestizid genutzten Clothianidin, in Wasser- und Schlammproben gefunden. Die Proben stammen von Feldern im Landkreis Neustadt an der Aisch–Bad Windsheim, auf denen mit Thiamethoxam ummantelte Zuckerrübensamen ausgesät worden waren. Auch in Proben von Pflanzen auf benachbarten Feldern in dem fränkischen Landkreis und dem angrenzenden Kreis Fürth fand das beauftragte Labor den Wirkstoff und sein Abbauprodukt aus der Pestizidgruppe der Neo­nikotinoide. Die Laborberichte liegen der taz vor.

Die EU hat 2018 verboten, Thiamethoxam und Clothianidin im Freiland auszubringen. Denn mehrere Studien hatten gezeigt, dass die in der Praxis vorkommenden Mengen dieser Pestizide Bienen schädigen. Neonikotinoide können Experten zufolge Insekten bereits bei einer niedrigen Dosierung lähmen, töten oder das Lernvermögen und die Orientierungsfähigkeit beeinträchtigen. Das betrifft nicht nur Bienen, sondern auch andere Insekten und Wasserorganismen. Da immer mehr Insektenarten aussterben, wollte die EU das nicht länger hinnehmen.

Trotz des EU-Verbots erteilte das Klöckner unterstellte Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) mehrere „Notfallzulassungen“ für das Thiamethoxam-haltige Produkt „Cruiser 600 FS“ des Chemiekonzerns Syngenta. Die EU-Pestizidverordnung erlaubt solche Ausnahmen, wenn sich eine „Gefahr“ nicht anders abwehren lässt. In sieben Bundesländern durfte von Januar bis April 2021 auf insgesamt 126.900 Hektar – einer Fläche mehr als eineinhalb mal so groß wie Hamburg – Zuckerrübensaatgut mit dem Gift ausgesät werden. Die „Gefahr“ war in diesem Fall eine Blattlaus, die durch Saugen die Pflanzen mit verschiedenen Vergilbungsviren infiziert. Die Blätter verfärben sich gelblich, die Photosynthese stockt, und die Rübe verkümmert. Wenn Samen mit Thiamethoxam gebeizt werden, ist das Gift in allen Teilen der späteren Pflanze enthalten.

Das Insektizid breitet sich auch außerhalb der Felder aus, auf denen es verwendet worden ist

Mit „anderen Pflanzenschutzverfahren oder zugelassenen Pflanzenschutzmitteln“ könnten die Insekten laut BVL nicht ausreichend bekämpft werden. Das Virus habe sich zuletzt in vielen Anbaugebieten der EU ausgebreitet und auch in Deutschland regional zu „gravierenden“ Pflanzenschäden und Ertragsverlusten geführt. Das Risiko für „Nichtzielorganismen“ durch die Aussaat des behandelten Zuckerrübensaatgutes sei gering, da diese Pflanze im Anbaujahr nicht blühe und daher wenig attraktiv für Bestäuber sei. Außerdem gebe es strenge Auflagen für den Insektenschutz.

Mehr als eine Million Menschen unterstützen laut Naturschutzbund (Nabu) mit ihrer Stimme die Europäische Bürgerinitiative „Bienen und Bauern retten!“ – knapp die Hälfte kommen aus Deutschland. Die Organisation teilte am Mittwoch mit, nun seien die EU-Kommission und das Europäische Parlament verpflichtet, sich mit den Forderungen der Initiative auseinanderzusetzen – etwa dem schrittweisen Ausstieg aus synthetischen Pestiziden und Maßnahmen zur Erholung der Artenvielfalt. Die Initiative wird außer vom Nabu von mehr als 140 Organisationen unterstützt. Da manche Unterschriften erfahrungsgemäß ungültig sind, ruft der Nabu dazu auf, bis Donnerstagabend weitere zu sammeln. (jma)

„Aber diese Auflagen sind in der Praxis kaum umzusetzen“, sagte Imker Matthias Rühl der taz. Zwei seiner Mitstreiter nahmen im Juli insgesamt drei Proben aus Wasser, das nach Regenfällen von drei Feldern ablief, wie einer der Beteiligten der taz berichtete. Auf den Äckern sei laut dem örtlichen Landwirtschaftsamt Saatgut mit Thiamethoxam ausgesät worden. Der Regen spülte den Umweltschützern zufolge Erde von den Äckern in Gräben und Bäche.

Ein akkreditiertes Labor fand in dem Schwemmwasser pro Liter bis zu 2,2 Mikrogramm Thiamethoxam und 0,37 Mikrogramm Clothianidin. „Das ist eine extrem hohe Konzentration“, sagte Professor Matthias Liess, Ökotoxikologe am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, der taz. „Insekten wie Libellen, Köcherfliegen und Eintagsfliegen sterben dadurch.“ Dabei seien diese Tiere relevant für die Nahrungskette, zum Beispiel als Futter für Vögel. Zudem tragen sie dazu bei, dass Verunreinigungen im Wasser abgebaut werden.

Die Pestizidmengen würden die RAK-Werte um mehr als das 50-Fache überschreiten. Die Abkürzung steht für „regulatorisch akzeptable Konzentration“ und bezeichnet im Zulassungsverfahren eines Pflanzenschutzmittels den Grenzwert, der in Gewässern nicht überschritten werden darf. Zwar sind die Proben aus Franken nicht direkt in einem Gewässer genommen worden, sondern am Feld, von dem das Wasser in Bäche und Gräben lief. „Aber bei kleinen Gewässern ist der Anteil des vom Feld abgeschwemmten Wassers sehr hoch, sodass die Konzentration auch im Gewässer sehr hoch ist. Entsprechend sterben dann im Gewässer die Insekten“, erläuterte Liess.

Auch auf benachbarten Feldern fanden die Imker nach eigenen Angaben die Neonikotinoide. In drei im August gesammelten Proben von Pflanzen wie Raps, Mais, Lupinen und Ackerdisteln stellte das Labor bis zu 0,008 Milligramm Thiamethoxam und 0,009 Milligramm Clothianidin pro Kilogramm Pflanzenmaterial fest. Ebenfalls von diesen Pflanzen sammeln Bienen und andere Insekten Pollen oder Nektar. „Aber sogar auf nahezu allen untersuchten Neonikotinoid-Feldern selber stießen wir auf Pflanzen, die dieses Jahr bereits geblüht haben oder noch in Blüte sind und von Insekten angeflogen werden können“, so Rühl.

Für den Bienenzüchter sind das Verstöße gegen die Allgemeinverfügung der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft über die Notfallzulassung des Thiamethoxam-haltigen Pestizids „Cruiser 600 FS“. Sie verlangt zum Beispiel „erosionsmindernde Maßnahmen“ auf gefährdeten Flächen. Vor und nach der Aussaat der mit dem Neonikotinoid ummantelten Samen sei „bestmöglich“ Sorge dafür zu tragen, dass zwei Jahre lang – bis Ende 2022 – auf dem Acker keine Pflanzen blühen. Zudem dürften in den 45 Zentimetern zum Feldrand keine mit dem Pestizid behandelte Zuckerrüben wachsen. Die Behörden kontrollierten die Vorgaben aber nur sporadisch, kritisierte Rühl.

Das Agrarministerium in München teilte der Landtagsfraktion der Freien Wähler mit, dass in einem von Rühl angezeigten Fall der betroffene Landwirtschaftsbetrieb tatsächlich zu wenig gegen Erosion unternommen hatte. Die anderen Fälle würden noch untersucht. Auf eine taz-Anfrage dazu antwortete das Ministerium bis Redaktionsschluss nicht.

Das Bundesagrarministerium verwies in einer Stellungnahme für die taz vor allem auf die Länder. „Parteiübergreifend“ hätten mehrere beim BVL Notfallzulassungen für Thiamethoxam beantragt. Klöckner habe von den Ländern gefordert, „Bewirtschaftungsregeln zum Schutz von Bienen und anderen Insekten zu erlassen“. Das BVL habe vorgeschrieben, dass die Samen mit etwa 35 Prozent weniger des Pestizids ummantelt werden als bei der früheren Zulassung.

Hintergrund der Erlaubnis ist, dass andere EU-Staaten Ausnahmegenehmigungen erteilt hatten. Deshalb verlangten viele deutsche Zuckerrübenbauern, dass sie ebenfalls die Mittel wieder benutzen dürfen.

Bio-LandwirtInnen bauen Zuckerrüben ohne chemisch-synthetische Pestizide an, indem sie einem Schädlingsbefall etwa durch eine weite Fruchtfolge vorbeugen. Das bedeutet, dass sie besonders viele verschiedene Fruchtarten hintereinander anbauen. Allerdings ernten Biobauern pro Hektar weniger als ihre konventionellen KollegInnen.

Nicht nur in Franken werden zu hohe Pestizidmengen in Gewässern gefunden. Ökotoxikologe Liess hat vor Kurzem eine Studie veröffentlicht, wonach in mehr als 80 Prozent der untersuchten Gewässer die RAK-Werte überschritten werden. Sein Team analysierte mehr als 100 Messstellen an Bächen, die durch überwiegend landwirtschaftlich genutzte Tieflandregionen in zwölf Bundesländern fließen.

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