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Meinung Nach der Pandemie

Corona wird unser Freizeitverhalten für immer verändern

„Der falsche Moment, es lockerer anzugehen“

Trotz steigender Infektionszahlen nehmen immer noch nicht alle die Maskenpflicht ernst, wie Kontrollen in Hamburg zeigen. Wissenschaftler warnen. Sie halten eine Verdoppelung der Corona-Zahlen für möglich.

Quelle: WELT/Jana Wochnik

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Im Lockdown haben wir uns daran gewöhnt, mehr Zeit im Privaten zu verbringen – ohne Konzerte, ohne Yoga-Gruppe, ohne Kirchgang, ohne Shopping, ohne Fernreisen. Gut möglich, dass wir auf viele dieser Aktivitäten auch nach der Pandemie verzichten.

Die Metropolitan Opera in New York ist das bedeutendste Opernhaus der Vereinigten Staaten. Sie wird großteils finanziert von Gönnern, von Fans, von Menschen, die nicht nur reich, sondern auch stolz darauf sind, mit diesem Geld etwas Schöpferisches anzustellen. Vor Jahren stand der Autor einmal als Student vor den Kassen des Hauses und lamentierte ob der unerfreulich hohen Ticketpreise. Da kam ein Herr, der dort anscheinend auf Musikfreunde mit klammem Geldbeutel gewartet hatte, auf ihn zu und fragte, welche Kategorie es denn sein sollte. Ein glühendes Dankeschön war ihm genug. Der Abend war gerettet.

Wie wird es diesem Gönner derzeit gehen? Und all den anderen. Wie wird er die Nachricht aufgenommen haben, dass der New Yorker Musiktempel nicht nur bis Dezember 2020 geschlossen bleibt, sondern erst im Oktober 2021 wieder öffnen will. Wegen Corona. Unter den aktuellen Bedingungen will die Met offenbar nicht arbeiten. Vielleicht ist sie sich sogar zu fein dafür? Wird der Mäzen, werden alle die anderen, die sich über Jahre engagiert haben, ihre Leidenschaft über die Zeit retten können? Oder werden sie das Gefühl bekommen, dass es auch ohne geht, ohne Oper. Weit hergeholt? Keineswegs.

Das Beispiel der Met ist ein extremes. Aber es steht für einen Trend, den man mit dem Begriff des Attentismus fassen kann. Menschen warten demnach ab, bis sich eine Lage klärt, bevor sie sich wieder einbringen, interessieren, aufraffen. Das ist ein nachvollziehbares Verhalten. Wer sich ein Bein gebrochen hat, wartet, bis es verheilt ist, bevor er es wieder richtig belastet. Doch auf Fortbewegung kann man kaum verzichten, auf vieles andere dagegen schon.

Die politische Kommunikation hat in der Corona-Krise denjenigen zum „besseren Bürger“ erklärt, der zu Hause bleibt, der nicht rausgeht, sich nicht in Gesellschaft begibt. Geht es nicht auch ohne die Skat-Runde, den Stammtisch, ohne das Philharmoniker-Abo? Ohne den sonntäglichen Kirchenbesuch? Geht es nicht auch ohne die durchwachte Nacht im Club? Ohne den Verwandtenbesuch an Ostern?

Abstand halten: Zum Schutz vor dem Coronavirus bleiben in vielen Theatern einzelne Sitzreihen leer
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Quelle: picture alliance/dpa

Geht es nicht auch ohne neue Kleidung für jede Saison, ohne das Training im Schwimmbad, ohne Reisen? Geht es nicht auch ohne die Yoga-Gruppe, die Ballett-Stunden für die Kids, ohne die Mutter-Kind-Gruppe? Geht es nicht auch ohne Volksfeste, Starkbieranstiche, ohne Karneval, ohne, ohne, ohne... Es geht. Und je länger Corona dauert, desto leichter geht es ohne all dies.

Dabei entkoppeln sich mit der Zeit Ursache und Wirkung. Was erst noch als Verzicht empfunden wurde, bekommt bald das Etikett vermeintlich heilsamer Entschleunigung, wird selbst zur Gewohnheit. So reden längst nicht nur die Ängstlichen. Gerade die Umtriebigen, die Engagierten, sprechen von ihren früheren regulären Betätigungen, von ihren alten Gewohnheiten, ihrem sozialen Engagement nun plötzlich als „Freizeitstress“. Sie beginnen, mehr und mehr gedanklich auszusortieren. Vor allem jene Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen werden ein Problem bekommen, die auf freiwillige Teilnahme bauen.

Die Politik, aber auch Experten und eben die betroffenen gesellschaftlichen Institutionen gehen ja davon aus, dass die Menschen nach der Krise selbstverständlich wiederkämen. Dass danach das Leben, der Konsum, die Aufmerksamkeit und Umtriebigkeit, ja dass alles förmlich explodiert. Doch ist das zwingend so? Dagegen spricht schon, dass die Pandemie nicht plötzlich vorbei sein wird, sie wird sich bestenfalls davonschleichen.

Spanische Grippe war bald vergessen

Die Gelassenen ziehen den Vergleich zur Spanischen Grippe. Sie verbinden damit die Hoffnung auf ein schnelles Wiederaufblühen aller Lebensbereiche. Doch Geschichte wiederholt sich nicht. Damals, Anfang der 20er-Jahre, folgte auf die Pandemie mit zig Millionen Toten weltweit der Rausch der Roaring Twenties. Aber die Leute hatten eben nicht nur die Pandemie – die ohne viele Beschränkungen durchgestanden wurde und bald vergessen war – hinter sich. Sie kamen aus einem Weltkrieg, erlebten in Deutschland eine Revolution, Putschversuche, Inflation, Hunger, Entbehrung.

Die Menschen 1920 haben sicher nicht über Freizeitstress geklagt. Die Pandemie traf sie eben nicht in einem Moment größter Sattheit wie ihre Nachfahren hundert Jahre später. Damals erschien den Menschen der Verzicht auf einige ihrer Gewohnheiten eben nicht wie eine Entschlackungskur.

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Die Menschen werden nicht einfach so wiederkommen. Für viele wird die „neue Normalität“ ihre Normalität bleiben. Bei der Entscheidung, welcher Begriff zum Unwort des Jahres taugt, darf dieser unsägliche Ausdruck einen Spitzenplatz beanspruchen. Die Institutionen und auch die Politik sollten schon jetzt an Ideen und Konzepten arbeiten, um die Leute zu halten oder wiederzugewinnen. Zumindest ihre Aufmerksamkeit wieder zu erregen. Auf das Ende von Corona zu warten ist höchst riskant. Dabei geht es nicht nur um die Existenzsicherung der gesellschaftlichen Bereiche, es geht dabei auch um den Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält.

Es ist schon bemerkenswert, wie viele gerade staatlich geförderte Institutionen etwa im Kulturbereich in den vergangenen Monaten schlicht nichts taten, um nicht vergessen zu werden. Dahinter steckt wohl die Annahme, dass staatliche Hilfe das Schlimmste sowieso verhindern wird. Doch das ist kurz gedacht. Ein Theater, das 2021 wieder von ein paar Leuten besucht wird, kann 2023 immer noch wegen zu geringen Zuspruchs geschlossen werden.

Mancher private Musik-Club hat unter Mühe Outdoor-Events organisiert. Doch viele Theater haben einfach nur Stühle ausgebaut und abgewartet. Wie kann es sein, dass ein staatliches Haus wie das riesige Bode-Museum in Berlin noch bis 3. Oktober geschlossen ist? Seit März. Auch die Kirchen werden sich anstrengen müssen. Sie müssen auf die Menschen zugehen, sonst werden sie noch leerer sein, als sie es vor der Krise schon waren.

Eine Airline verschenkt Flüge

Der Kampf um die abwartenden Menschen beginnt jetzt. Einige haben das erkannt. Billigfluggesellschaften etwa verfolgen gerade eine ziemlich aggressive Strategie des Marketings. Eine Airline verschenkte dieser Tage sogar einen Teil ihrer Flüge. Das ist zwar ein krasses Beispiel, aber es ist der wirkungsvolle Versuch, sich in Erinnerung zu halten und vielleicht ein paar Menschen zur Buchung eines Fluges zu bewegen.

Wer heute fliegt, wird es auch in zwei Jahren tun. Es wird in vielen Fällen nicht ausreichend sein, sich in trügerischer Sicherheit zu wiegen, dass die Menschen bald wieder nach Abwechslung gieren. Wenn Corona vorbei ist, wird Zeit für viele Menschen eine wertvollere Ressource geworden sein als vor der Krise. Sie werden sich gut überlegen, wem sie sie schenken.

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