Santiago_
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Die Lust an der Empörung: Ellen Kositza bespricht neue Bücher zum Thema »Moralismus und Hypermoral« Rezensionen.Mehr
Die Lust an der Empörung: Ellen Kositza bespricht neue Bücher zum Thema »Moralismus und Hypermoral«
Rezensionen.
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Horst Herrmann geht am Ende des Reformationsjubiläums endlich allen Aporien von Luthers Theologie kenntnisreich nach. Diese wurden ja meist ausgeblendet oder durch Rhetorik übertüncht. Luthers Radikalisierung der ausgustinischen Gnaden- und Erbsündenlehre hat die Kluft zwischen Ost- und Westkirche weiter vertieft. Forensische Heilsgewissheit wurde wichtiger als "Theosis", als die den Gläubigen …Mehr
Horst Herrmann geht am Ende des Reformationsjubiläums endlich allen Aporien von Luthers Theologie kenntnisreich nach. Diese wurden ja meist ausgeblendet oder durch Rhetorik übertüncht. Luthers Radikalisierung der ausgustinischen Gnaden- und Erbsündenlehre hat die Kluft zwischen Ost- und Westkirche weiter vertieft. Forensische Heilsgewissheit wurde wichtiger als "Theosis", als die den Gläubigen umgestaltende Erfahrung des Göttlichen oder eine "imitatio Christi" als Nachfolge. Der zerrissene Berserker Martin Luther schafft das Fegefeuer und das Priestertum ab, öffnet dafür die Höllenpforten umso weiter und macht den Teufel zum Hauptdarsteller. Das "Großmachen der Sünde" lässt keine Heiligung, sondern nur noch globales Moralapostolat zu. CO²-Werte ersetzen den Ablass. Auch der Katholizismus schließt sich mit einem Papst Franziskus diesem Trend zunehmend an. Herrmann ist kein akademischer Fachtheologe, sondern nutzt die publizistische Freiheit eines theologisch gebildeten freien Christenmenschen in großer Souveränität. Maßgebliche Autoren wie Gerhard Ebeling, Erik Peterson, Eric Voegelin, Karl Barth, Charles Taylor, Paul Hacker oder Volker Leppin sind ihm vertraut. Erwähnt wird auch die begründbare und vielfach verdrängte These von Luthers Duell-Tötung als Grund für Klostereintritt mit Kirchenasyl. Das bedrängte Gewissen musste sich eine Absolution suchen und erdenken. Luthers Degradierung der Frau ist eine eigene "Marginalie". Die Weiterführung einer moralistischen Zivilreligion bei der EKD mit ihrer als Bischöfin zurückgetretenen "Lutherbotschafterin" oder auch beim Kölner Kardinal Woelki wird schonungslos aufgedeckt. Ähnliches lässt sich bei Alexander Grau (Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung, München 2017) nachlesen. Ursprüngliche Mystik und Spiritualität, die sich von der Ostkirche befruchten lässt, wäre die sinnvolle Gegenposition und wirkliche Befreiung vom Joch des schon Nietzsche abstoßenden falschen Moralapostolats. In Durchschlagkraft und Zuspitzung erinnert mich Horst G. Herrmanns Buch an Karl Barths fulminanten Römerbriefkommentar vor fast 100 Jahren - obwohl gerade dem später politisierenden Barth klar widersprochen wird. Besser lässt sich das meist oberflächliche und ökumenisch verwässerte Reformationsjahr 2017 nicht nachbetrachten.
Santiago_
POSTREFORMATORISCHE BELASTUNGSSTÖRUNG
Haben sich die Nebelkerzen nach dem Finale der »Lutherdekade« erst einmal verflüchtigt, sieht man klarer: Um die Theologie des Reformators wird ein großer Bogen gemacht. Ganz bewußt. Denn hier betritt man vermintes Gelände. Die selbsternannte »Kirche der Freiheit« steht schützend vor »Errungenschaften«, »Mündigkeit«, »Pluralität« und mag die dogmatischen …Mehr
POSTREFORMATORISCHE BELASTUNGSSTÖRUNG

Haben sich die Nebelkerzen nach dem Finale der »Lutherdekade« erst einmal verflüchtigt, sieht man klarer: Um die Theologie des Reformators wird ein großer Bogen gemacht. Ganz bewußt. Denn hier betritt man vermintes Gelände. Die selbsternannte »Kirche der Freiheit« steht schützend vor »Errungenschaften«, »Mündigkeit«, »Pluralität« und mag die dogmatischen Geschäftsgrundlagen, die der Augustinermönch der westlichen Welt vermacht hat, nur noch ungern thematisieren.

Horst G. Herrmann hat diese Grundlagen gesichtet und beschreibt eine folgenreiche mentale und dogmatische Verschiebung: Ein schmerzinduzierendes Christentum (Schmerz über die objektive Verfehlung einer Nachfolge Christi) wird in ein angstverbreitendes, egozentriertes, reformatorisches Christentum überführt. Mit Luthers »Großmachen der Sünde« und der Angst steht nun die Frage nach Einschluß oder Ausschluß, nach Himmel oder Hölle dringlicher denn je auf der Tagesordnung, während die imitatio Christi der Hermeneutik des Verdachts ausgeliefert wird.

Die Reformation markiert einen eschatologisch aufgeladenen moral turn im Westen; die Verabschiedung einer Tugendethik durch uneingestandene Moralistik. Aus einem Sollen wird ein Müssen; ein Glaubenmüssen, ein Lesenmüssen, ein Begnadetseinmüssen. Aus einem (Pilger-) Weg, der einen hält, während man ihn beschreitet, wird der angstvolle Blick auf ein Ziel, das man keinesfalls verfehlen darf.

Das »Großmachen« von Erbsünden aller Art und der Wunsch nach säkularisierter »Heilsgewißheit«, nach dem notorisch guten Gewissen, sind zur pathogenen Matrix des Westens geworden. Wir alle – gläubig oder ungläubig – sind Menschen mit Reformationshintergrund und teilen dasselbe Schicksal: die postreformatorische Belastungsstörung.

»Ein mutiges Buch« Papst Benedikt XVI