Labre
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3. ADVENTSSONNTAG: Predigt über den, der sich von Heuschrecken und wildem Honig ernährte; von Kaplan A. Betschart

Im heutigen Evangelium begegnen wir einem Menschen, den die Kirche als einen der ganz grossen Heiligen verehrt: Johannes den Täufer.

“Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen”

Den Schlüssel zu seiner Persönlichkeit bildet seine eigene Aussage über sich selbst, die sozusagen sein Lebensprogramm war:

“Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen” (Joh 3,30).

In diesem wunderbaren Wort ist der ganze Johannes enthalten: er tritt an die Öffentlichkeit nur für Christus. Als dieser kommt, tritt Johannes wieder zurück. Johannes wurde vom Heiligen Geiste geheiligt, damit er “abnehme”. Darin liegt des Johannes unverwechselbare Grösse. Als er sich zum erstenmal dem Volk in der Öffentlichkeit zeigte, war er ein Unbekannter. Niemand von denen, die sich um ihn drängten, kannte das Geheimnis seiner Auserwählung und die Wunderzeichen seiner Geburt.
Jetzt steht dieser Johannes vor ihnen als Mann in der Vollkraft seiner Jahre, aber hager und ausgedörrt wie die Wüste, aus der er kommt. Seine Gewandung ist rauh, seine Nahrung, was ihm die Wüste bietet: Heuschrecken und wilder Honig. Seinen Geist hat er gestählt durch Busse und Kasteiungen. Wir können nur ein wenig ahnen von seiner grossen Vertrautheit mit dem lebendigen Gott, der ihn berufen hatte wie einst einen Moses, um sein Volk in eine neue Zukunft zu führen, zu der er seinem ganzen Wesen nach bereits angehörte. Aber wie Moses musste auch er, der letzte und grösste Prophet des Alten Bundes, an der Schwelle der neuen Zeit sterben.
In Johannes lebt das Israel der Nomadenzeit auf der Wanderung von Ägypten nach Kanaan in wundersamer Weise wieder auf. Wie einst um Moses, so sammeln sich um ihn die Menschen, die nach Rettung verlangen, und folgen ihm. Einst durchschritten die Hebräer das Rote Meer. Nun gehen die Erstlinge des Neuen Volkes - Zöllner, Soldaten, Menschen aller Stände - durch die Wasser des Jordans, getauft von Johannes mit der Busstaufe. Das Gelobte Land, das Johannes aufzeigt, liegt jenseits dieser rettenden Taufe, in der aber bereits das Sakrament jener erlösenden Taufe angedeutet ist, die der Erlöser, Jesus Christus, bringen wird.

“Das Himmelreich ist nahe” (Mt 3,2)

Vor diesen Menschen mit ihren nationalen Problemen und ihren revolutionären Hoffnungen spricht Johannes eine rein religiöse Sprache. Er ist Prophet und redet als Prophet zu ihnen. Er stellt die Dinge dieser Zeit in das helle Licht der Ewigkeit und macht sie so durchschaubar und erkennbar in dem, was sie wirklich wert sind. Und weil Johannes im Einklang steht mit den Gedanken Gottes, sagt er das, was Gott denkt und sieht. Darum ist die Mitte seiner Verkündigung das Wort von der “Metánoia”, vom Umkehren, vom Umdenken, von der Wandlung der Gesinnung: weg von der Bosheit hin zur Güte. Er sagt seinen Zuhörern - auch heute -, dass das Himmelreich nahe ist. Wenn sie Zugang zum Himmel finden wollen, dann müssen sie sich gründlich ändern, ihre Wertmassstäbe anders setzen. An erster Stelle steht das Geistliche, das, was Gottes ist. Sie sollen den göttlichen und den weltlichen Bereich nicht miteinander vermengen; ja das Weltliche muss vergöttlicht werden. Sie sollen Gott, den Heilig-Erhabenen, nicht ihren selbstsüchtigen Interessen unterordnen, auch nicht den religiös eigensüchtigen Interessen. Es nütze rein gar nichts, wenn sie sich ihrer leiblichen Abstammung von Abraham rühmten. Das Etikett besage nichts:

“Ich sage euch, Gott kann aus diesen Steinen da dem Abraham Kinder erwecken” (Mt 3,9).

Sie seien in ihren Egoismen gefangen. Sie sollen sich deshalb zu Gott zurückwenden, der seit den Tagen ihrer Väter sich ihnen zugewandt habe. Es gehe nicht um Politik, sondern um die Wahrheit, die von Gott stammt, um echtes Früchtebringen, um Liebe zu Gott und zum Nächsten, um eine schlichte, einfache Anständigkeit!
Johannes lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, dass die Ankunft des Messias unmittelbar bevorsteht. Er verweist immer wieder auf Ihn als den Kommenden, dessen Schuhriemen aufzulösen er nicht würdig sei.

Die Taufe Jesu

Und dann kommt der Tag wirklich, an dem Jesus selbst an den Ufern des Jordans erscheint und begehrt, von Johannes getauft zu werden. Johannes hat Ihn noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen. Aber er erkennt Ihn sofort durch göttliche Eingebung und weigert sich aus tiefster Demut, an seinem göttlichen Herrn und Meister ein menschlich-priesterliches Amt auszuüben. Der Herr muss ihn erst beruhigen, bevor Er in das Wasser des Jordans steigt. Johannes aber sieht, wie der Himmel sich öffnet und der Geist Gottes nieder schwebt. Er hört die überirdische Stimme, die für Jesus Zeugnis ablegt; und in stürmischem Jubel bekennt er den Gottmenschen vor aller Welt:

“Seht das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt! Er ist es, von dem ich sprach” (Joh 1,29 f.).

Dann kommt für den Vorläufer die Zeit abzutreten. Die Stunde dieses höchsten Verzichtes ist zugleich die Stunde der äussersten Freude. Der Text der Hl. Schrift, der darüber berichtet, ist so schön, dass man ihn so, wie er dasteht, hören muss. Wer je mit fühlendem Herzen geliebt und sich aus Liebe geopfert hat, kann nur mit tiefster Erschütterung nachempfinden, welch eine Selbstlosigkeit hinter dem Jubel dieses Grössten unter den vom Weibe Geborenen, wie Christus den Johannes, nennt steht:

“Die Jünger des Johannes kamen zu ihm und sagten: 'Meister, der Mann, der jenseits des Jordans bei dir war und für den du mit deinem Zeugnis eingetreten bist, siehe, der tauft jetzt auch, und alle laufen ihm zu.' Da gab ihnen Johannes zur Antwort: 'Kein Mensch kann sich etwas nehmen, wenn es ihm nicht vom Himmel her gegeben ist. Ihr selbst könnt mir bezeugen, dass ich gesagt habe: Ich bin nicht Christus, sondern bin nur als Sein Vorläufer gesandt. Wer die Braut hat, ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der dabeisteht und ihm zuhört, freut sich von Herzen über den Jubelruf des Bräutigams. Diese meine Freude ist nun vollkommen geworden. Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen” (Joh 3,26-30).

Der Tod des Johannes

Die Menschen verlassen Johannes, um Jesus nachzufolgen. Johannes wird von Herodes in der Festung Machärus an der Grenze Palästinas und Arabiens in Gefangenschaft gesetzt. Johannes hatte dem Fürsten vorgeworfen, er lebe in einem ehebrecherischen Verhältnis mit Herodias, der Gemahlin seines Stiefbruders. Johannes sitzt in Einzelhaft. Es scheint, als ob er hier jener Prüfung unterworfen wurde, jener letzten Läuterung, die darin besteht, sich von Gott verlassen zu wissen. Es ist jene tiefe Läuterung, die Gott einigen seiner grössten Freunde vorbehält, jene Dunkelheit, die darin besteht, dass man den Glauben und die Liebe nicht mehr spürt, sondern die Dunkelheit, die Nacht des Nichts und der Leere. Ohne Zweifel wurde Johannes in dem Verliess seines Gefängnisses in jene Fluten der Bitterkeit hinab getaucht, in denen der Glaube auf das Härteste erprobt wird. Das lassen jedenfalls die fragenden Worte ahnen, die er an Jesus durch seine Jünger richten lässt:

“Bist Du es, der da kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?” (Mt 11,3)

Johannes erhielt in der Dunkelheit seines Gefängnisses die letzte Reife wie ein kostbarer Wein, um bereitet zu werden für das Hochzeitsmahl des Lammes, gemäss einem Wort in der Offenbarung des hl. Apostels Johannes:

“Selig, die zum Hochzeitsmahle des Lammes geladen sind!” (19,9).

Johannes legte im Gefängnis das Blutzeugnis ab für das Lamm Gottes. Israel und die Menschheit hatte keinen Propheten mehr, aber er hatte dem Messias den Weg bereitet, der sie von aller Schuld der Sünde erlöste.

Ist Johannes noch aktuell?

Zum Schluss müssen wir uns der Wahrheit beugen, dass das Lebensprogramm des Johannes “Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen” auch für uns gültig ist. Wenn wir es im Verlaufe unseres Lebens nicht fertigbringen, Christus in uns Gestalt gewinnen zu lassen (vgl. Gal 4,19), von der der hl. Paulus spricht, müssen wir von einem verfehlten, ja verpfuschten Leben sprechen.
Nicht grosser materieller Besitz, Anerkennung bei den Menschen oder geschäftliche Erfolge, ja nicht einmal Gesundheit sind letztlich das, was unser Leben lebenswert machen, sondern das beständige Bemühen, Christus in mir wachsen zu lassen, ein zweiter Christus zu werden. Das bedeutet zuerst einmal, einen entschiedenen, nicht einen lahmen und widerwilligen Kampf, zu führen gegen das, was die katholische Morallehre die “Sieben Hauptsünden” oder auch Wurzelsünden nennt, die da sind: Stolz, Geiz, Neid, Unkeuschheit, Unmässigkeit, Zorn und Trägheit. Zugegeben: dieser Kampf ist hart und schwer. Er ist der Weg des “Zu-nichts-Werdens”, die Realisierung des Psalmwortes:

“Mein Wesen ist nichts vor Dir, o Herr” (38,6).

Gegen diesen Weg sträubt sich unsere Natur heftig. Wer ihn aber ehrlich geht, wird mit der Zeit verspüren, dass er leicht ist, wenn er ihn aus Liebe zum Heiland geht. Gewiss, die Liebe verhindert nicht, dass man leidet. Aber sie lässt uns das Leid lieben und bewirkt schliesslich, dass man es allen menschlichen Freuden vorzieht. Wer das nicht glaubt, lese einmal eine Heiligenbiographie!
Dieses Leid wird nämlich schon hier auf Erden belohnt mit einem Lohn, der ein Vorgeschmack auf die Freuden des Himmels ist. Der Lohn ist das Verstummen der Leidenschaften und der bösen Neigungen; er ist der Friede des Herzens, die Ruhe des Geistes, das Wohnen Gottes in der Seele: das höchste Glück auf dieser Welt. Das hat Christus selbst versprochen:

“Wenn jemand Mich liebt, wird er Mein Wort halten, und Mein Vater wird ihn lieben, und Wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen” (Joh 14,23).

Bitten wir doch den hl. Johannes, dass er uns einen unbeschwerten Mut erflehe, “abzunehmen”, damit Christus in uns “wachsen” kann.

Quellenhinweis:

▸ Bacht Heinrich, Die Tage des Herrn, Bd. 3; Herder 1960.
▸ Bergeaud J., Der letzte Prophet - Johannes der Täufer, Heidelberg 1963.

Bild: Matthias Grünewald, Isenheimer Altar, Colmar.