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Eine Theologie der sakralen Kunstgeschichte - nach Ernst Hans Gombrich. "Der Gedanke kam aus Nordfrankreich, und das ganze Prinzip des gotischen Stils war darin enthalten. Zuerst mochte es scheinen, …Mehr
Eine Theologie der sakralen Kunstgeschichte - nach Ernst Hans Gombrich.

"Der Gedanke kam aus Nordfrankreich, und das ganze Prinzip des gotischen Stils war darin enthalten. Zuerst mochte es scheinen, als ob es sich einfach um eine technische Erfindung handelte, aber in seinen Auswirkungen erwies es sich doch als wesentlich mehr. Es war die Entdeckung, dass die Methode, eine Kirche mittels kreuzweiser Gurte oder Rippen einzuwölben, noch viel konsequenter und zielbewusster durchgeführt werden konnte, als es sich die romanischen Architekten hatten träumen lassen. [...] So waren die Rundbögen des romanischen Stils für die Zwecke der gotischen Baumeister ungeeignet. [...] In diesem Fall ist es das Beste, überhaupt keinen runden Bogen zu wählen, sondern zwei Kreissegmente aneinander zu lehnen. Das ist der Grundgedanke des Spitzbogens. Sein Vorteil liegt darin, dass man ihn je nach den Bedürfnissen des Bauplans flacher oder steiler gestalten kann. [...] In den älteren [romanischen] Kirchen mit ihrer drohenden Kraft lebt etwas von dem Glauben an die streitbare Kirche, die Schutz gegen die Anfeindungen des Bösen bietet. Die neuen [gotischen] Kathedralen geben den Gläubigen die Ahnung einer anderen Welt. Sie hatten in Predigten und Kirchenliedern vom ›himmlischen Jerusalem‹ gehört, mit seinen Toren aus Perlen, seinem kostbaren Edelgestein, seinen Gassen aus lauterem Gold und durchscheinendem Glas (Offenbarung des Johannes, 21, 21). Jetzt hatte sich diese Vision vom Himmel auf die Erde herabgesenkt."[1]
In Übereinstimmung mit diesen Überlegungen hat Ernst Hans Gombrich das Kapitel über das 12. Jahrhundert seiner Kunstgeschichte mit "Die streitbare Kirche", das über das 13. Jahrhundert mit "Die triumphierende Kirche" überschrieben. Es erscheint daher m. E. konsequent, die zeitgenössische Kirchenarchitektur unter der Überschrift "Die leidende Kirche" zu behandeln.

[1] Ernst Hans Gombrich: Die Geschichte der Kunst, 16. Aufl., Berlin 1996, 185-189.