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Nach 47 Jahren erstmals wieder zu Hause

(gloria.tv/ POW) Das Herz des schmächtigen Mannes im Zug nach Eckernförde klopfte mächtig. Rüdiger Maas war sehr aufgeregt, als er nach 47 Jahren erstmals seine Geburtsstadt an der Ostseeküste aufsuchte. Er war auf Spurensuche nach seiner Familie, die er seit 1963 nicht mehr gesehen hatte. Nur von einem Bruder wusste er, wo er ihn finden kann: auf dem Friedhof. Der Förderverein Würzburger Wärmestube und der Würzburger Diözesan-Caritasverband ermöglichten dem mittellosen Mann, der seit 27 Jahren wohnungslos ist und die meiste Zeit auf der Straße gelebt hatte, die Reise an die Ostsee. Barbara Stehmann, Mitarbeiterin des Vereins, begleitete ihn.

1953 wurde Rüdiger Maas hier geboren, fünf Geschwister hat er gehabt. Der Familie ging es finanziell gut, die Mutter jettete für einen Kosmetikkonzern durch Europa, der Vater arbeitete bei der Bahn. „Unsere Eltern haben wir nur wenige Male im Jahr gesehen“, erinnert sich Maas. Die Erziehung der Kinder übernahmen vier Kindermädchen – eins für die drei Schwestern, je eins für die Jungs. Als die Eltern bei einem Flugzeugabsturz 1963 tödlich verunglückten, zerbrach die Familie. Rüdiger zog zu seinen Großeltern auf eine Hallig, die Geschwister kamen in Heimen und bei Pflegefamilien unter. Wiedergesehen hat er sie nie mehr. Wo sie leben, wie sie heute heißen? Er weiß es nicht. Viele Jahre später als Erwachsener suchte er den Kontakt. Er fand nur seinen zwei Jahre älteren Bruder Harald, der einen Maler- und Lackierbetrieb führte. Doch umarmen konnte er ihn nicht mehr, Harald hatte 25 Jahre zuvor Suizid begangen, nachdem er von seiner Familie verlassen worden war. Dieses Grab und das seiner Eltern will Rüdiger Maas zumindest aufsuchen.

Es wird wohl sein letzter Versuch sein, die Familie zu finden. Maas, der als junger Mann als Maler und Restaurator gearbeitet hatte, geriet irgendwann ins Abseits: Alkohol, psychische Probleme, Arbeitslosigkeit. Es folgten 25 Jahre „auf der Platte“, mit 51 Jahren fand er seine große Liebe, die zwar nicht lange hielt, doch ihm Vaterfreuden bescherte. Sein fünfjähriger Junge lebt heute bei einer Pflegefamilie, sie haben Kontakt. Maas, der auf dem Simonshof in Bastheim in der Rhön – einer Caritaseinrichtung für wohnungslose Menschen – lebt, ist schwer krank. Der Krebs hat ihn die halbe Lunge gekostet, viel Zeit bleibt ihm nicht mehr, die Luft wird ihm knapp. Doch bevor es zu spät ist, möchte er seine Familie finden. Der erste Gang führt ihn und Barbara Stehmann am Sonntagmorgen auf den Friedhof. Ein Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung hatte sich trotz des Wochenendes bereit erklärt, ihnen die ehemalige Grabstelle zu zeigen. Die Gräber vom Vater und Bruder mussten einem Urnenfeld Platz machen, von der Mutter gibt es keine Aufzeichnungen. Dem suchenden Sohn bleibt es nur, eine Kerze anzuzünden. Das Taxi bringt die beiden zum Hafen. In der Nähe steht das schmucke Elternhaus. Wer dort inzwischen wohnt, weiß Rüdiger Maas nicht. Klingeln traut er sich nicht.

Am Montag vor der Abfahrt macht er mit seiner Begleiterin einen Spaziergang am Meer. Außen wütet ein stürmisches Wetter, innen wühlen ihn Erinnerungen auf. Als wäre er nie weggewesen. „Mein Bruder Ottmar hat immer in die Ferne geschaut. Vielleicht ist er später zur See gefahren.“ Und Marita, Petra und Carmen? Rüdiger hat noch die vielen Kriegsruinen vor Augen, sieht die Engländer bei Manövern am Strand. „Doch mit Eckernförde verbinde ich nur positive Erinnerungen. Wir haben als Kinder alles gehabt.“ So habe der Vater die Anweisung gegeben, dass bei Besuch für die Kinder immer Kuchen und Kakao serviert würden.

Die beiden laufen in die Innenstadt, wollen in der Kirche Kerzen anzünden für die Mutter und die Geschwister. Die Kirche ist zu, doch die Kerzen müssen brennen. Zwei Reisetaschen schützen sie an der Kirchenwand gegen den Wind.

Im Zug sagt Rüdiger Maas: „Meine Suche hat einen Abschluss gefunden. Ich bin sehr viel ruhiger im Herzen als auf der Hinreise. Ich habe Frieden im Herzen gefunden.“ Und er sagt: „Danke, dass Du mitgefahren bist.“ Und dann muss er wieder kräftig schnaufen.