ANNA EMPFÄNGT DIE VERHEISSUNG DER FRUCHTBARKEIT UND REIST ZUM TEMPEL (Anna K. Emmerich)

Joachim war durch seine Verschmähung am Tempel so traurig und beschämt, daß er Anna gar nicht sagen ließ, wo er sich aufhielt. Sie erfuhr aber von anderen Leuten, welche zugegen gewesen waren, die Kränkung, die Joachim erlitten, und ihre Betrübnis war unbeschreiblich. Ich sah sie oft weinend mit dem Angesichte auf der Erde liegen, weil sie nun gar nicht wußte, wo Joachim war, der wohl an fünf Monate bei seinen Herden am Hermon versteckt blieb.

Anna litt gegen das Ende dieser Zeit noch mehr durch die Unart einer ihrer Mägde, welche ihr ihr Leiden oft vorrückte. Einstens aber, es war am Anfang des Laubhüttenfestes, da diese Magd auswärts auf dies Fest zu gehen verlangte, was ihr Anna, durch die Verführung ihrer früheren Dienerin gewarnt, als eine wachsame Hausmutter versagte, warf ihr diese Magd ihre Unfruchtbarkeit und Verlassenheit von Joachim als eine Strafe Gottes für ihre Härte so heftig vor, daß sie dieselbe nicht mehr in ihrem Hause dulden mochte. Sie sendete sie mit Geschenken, von zwei Knechten begleitet, ihren Eltern mit der Erklärung zurück, sie möchten ihre Tochter aus ihrem Hause wieder so annehmen, wie sie dieselbe ihr übergeben hätten, denn sie vermöge sie nicht länger zu verwahren.

Als Anna ihre Magd weg gesendet hatte, ging sie traurig in ihre Kammer und betete. Am Abend aber warf sie ein großes Tuch über das Haupt und hüllte sich ganz darin ein und ging mit einem verdeckten Lichte zu dem bereits früher erwähnten großen Baum ihres Hofraumes, welcher eine Laubhütte bildete, und zündete eine Lampe an, die in einer Art Kasten an diesem Baume hing, und betete aus einer Gebetsrolle. - Dieser Baum war sehr groß, es waren Sitze und Lauben darin angebracht, er senkte seine Zweige über die Mauer wieder in die Erde nieder, wo sie wieder wurzelten und aufschössen und sich abermals zur Erde wurzelnd senkten und wieder aufschössen, wodurch eine ganze Reihe von Lauben gebildet ward. - Dieser Baum hat die Art des Baumes der verbotenen Frucht im Paradies. Die Früchte hängen meistens zu fünfen um die Spitze der Zweige herum. Sie sind birnförmig, inwendig fleischig, blutfärbig geädert und haben in der Mitte einen hohlen Raum, um welchen die Kerne in dem Fleische sitzen. Die Blätter sind sehr groß, und ich meine solche, mit welchen sich Adam und Eva im Paradiese bedeckten. Die Juden gebrauchten die Blätter besonders bei dem Laubhüttenfest, um die Wände zu schmücken, weil sie sich, schuppenförmig gelegt, sehr bequem mit ihren Rändern ineinander fügen.

Anna schrie unter diesem Baume lange Zeit zu Gott, wenn er auch ihren Leib verschlossen habe, so möge er doch ihren frommen Gefährten Joachim nicht von ihr entfernt halten. - Siehe, da erschien ihr ein Engel Gottes, er trat wie aus der Höhe des Baumes vor sie nieder und sprach zu ihr, sie möge ihr Herz beruhigen, der Herr habe ihr Gebet erhört; sie solle am folgenden Morgen mit zwei Mägden zum Tempel reisen und Tauben zum Opfer mitnehmen. Auch Joachims Gebet sei erhört, er ziehe mit seinem Opfer auch zum Tempel, sie werde mit ihm unter der goldenen Pforte zusammentreffen. Joachims Opfer werde angenommen, sie beide würden gesegnet werden; bald solle sie den Namen ihres Kindes erkennen. Er sagte ihr auch, daß er ihrem Manne gleiche Botschaft gebracht habe, und verschwand hierauf.

Anna voll Freude dankte dem barmherzigen Gott. Sie kehrte nun in das Haus zurück und ordnete mit ihren Mägden das Nötige, um am folgenden Morgen zum Tempel zu reisen. - Ich sah hierauf, wie sie sich zu schlafen niederlegte, nachdem sie gebetet hatte. Ihr Lager bestand aus einer schmalen Decke und einem Wulst unter dem Kopfe. Morgens ward die Decke zusammengerollt. Sie legte ihre Oberkleider ab, hüllte sich vom Kopf bis zu den Füßen in ein weites Tuch ein und legte sich gerade ausgestreckt auf die rechte Seite gegen die Wand ihres Kämmerchens, längs welcher ihr Bett stand.

Nachdem Anna kurze Zeit geschlafen hatte, sah ich einen Lichtglanz von oben zu ihr niederdringen, der sich neben ihrem Lager in die Gestalt eines leuchtenden Jünglings zusammenzog. Es war der Engel des Herrn, der ihr sagte, sie werde ein heiliges Kind empfangen, und die Hand über sie ausstreckend, große leuchtende Buchstaben an die Wand schrieb. Es war der Name Maria. Der Engel verschwand nun wieder, indem er sich in Licht auflöste. Anna war währenddem wie in einer innerlichen freudigen Traumbewegung, sie richtete sich halberwacht auf ihrem Lager auf, betete mit großer Innigkeit und sank wieder ohne klares Bewußtsein in den Schlaf. - Nach Mitternacht aber erwachte sie freudig wie durch eine innere Anmutung, und nun sah sie mit Schrecken und Freude die Schrift an der Wand. Es waren wie rote, goldene, leuchtende Buchstaben, groß und nicht viele; aber sie schaute sie mit unbeschreiblicher Freude und Zerknirschung an, bis sie bei Tagesanbruch erloschen. Sie sah es so klar, und ihre Freude wuchs dermaßen, daß sie ganz verjüngt aussah, als sie aufstand.

In dem Augenblick, als das Licht des Engels mit Gnade über Anna gekommen war, sah ich unter ihrem Herzen einen Glanz und erkannte in ihrer Person die auserwählte Mutter, das erleuchtete Gefäß der nahenden Gnade. Ich kann, was ich in ihr erkannte, nur mit dem Ausdruck bezeichnen, ich erkannte in ihr eine gesegnete Mutter, welcher eine Wiege geschmückt, ein Bettchen gedeckt, ein Tabernakel erschlossen ist, um ein Heiligtum würdig zu empfangen und zu bewahren. Ich sah, daß Anna durch Gottes Gnade dem Segen erschlossen war. - Wie wunderbar ich das erkannte, ist unaussprechlich, denn ich erkannte Anna als die Wiege alles menschlichen Heils und zugleich als einen erschlossenen kirchlichen Behälter, vor welchem der Vorhang zurückgezogen war, und ich erkannte dieses auch natürlich, und alle diese Erkenntnis war eins und zugleich natürlich und heilig. - Anna war damals, wie ich meine, 43 Jahre alt.

Anna stand nun auf, zündete die Lampe an, betete und trat die Reise nach Jerusalem mit ihren Opfergaben an. Alle ihre Hausgenossen waren am Morgen von einer wunderbaren Freudigkeit durchdrungen, wenngleich nur sie allein von der Erscheinung des Engels wußte.

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