M.RAPHAEL
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Der katholische Vatergott gegen den protestantischen Willkürgott, Teil 2, via moderna

Die via moderna:

Im 14ten Jahrhundert kommt es zu einer intellektuellen Revolution. Soziale, psychologische und spirituelle Veränderungen, angetrieben auch von Korruption und Pest, bringen ein neues intellektuelles Denken hervor, dessen Ideen nicht mehr verschwinden und über Jahrhunderte Konsequenzen haben werden.

Marsilius von Padua, Rektor der Universität von Paris kurz nach dem Tod vom Hl. Thomas und dem Hl. Bonaventura, hatte die neue Idee der duplex veritas, der zwei Wahrheiten von Glaube und Vernunft. Damit fallen diese auseinander. Der Glaube wird zur Privatsache. Die Vernunft herrscht über die nachweisbaren, wichtigen und öffentlichen Angelegenheiten. In seinem Buch, „Defensor Pacis“ – Verteidiger des Friedens, wird der irdische Herrscher zum neuen Gewährleister des Friedens. Dieser erstmalige Gedanke schien erst mal ungefährlich. Er folgte der Strategie der plausiblen Leugnung oder der glaubhaften Abstreitbarkeit.

de.wikipedia.org/wiki/Glaubhafte_Abstreitbarkeit

Durch eine Vermengung von Wahrheit und Lügen sowie subtiler heimtückischer Begriffsverdrehung wird der bestehende Glaube pervertiert und dann neu bestimmt. Aus einem bedingungslosen Bund wird ein verhandelbarer Vertrag, den man auch einseitig beenden kann. Z.B. wird die Ehe immer noch gelobt und man steht zu ihr, tatsächlich aber denkt man schon an die Scheidung. Niemals gibt man das zu, aber man handelt entsprechend.

Marsilius hat nie behauptet, dass er den Papst oder die heilige Kirche zu Gunsten des weltlichen Herrschers entmachten wollte. Er war sich dessen wahrscheinlich noch nicht mal bewusst, aber seine Idee wurde von Wilhelm von Ockham aufgegriffen. Beide sind zum Prinz Ludwig von Bayern geflüchtet. Der begrüßte, dass die beiden die irdischen Herrscher über die Kirche stellten.

Auch Wilhelm von Ockham wollte mit seinem Buch, „Über die göttliche Freiheit“, die via antiqua eher nur in Frage stellen und sie nicht direkt bekämpfen, im Sinne von: die Sakramente sind einfach nicht so notwendig, wie die Kirche behauptet. Er begann die Ideen des Voluntarismus und des Nominalismus zu entwickeln. Nirgendwo stellte er sich direkt gegen die Kirche. Er intendierte nur die Überzeugungen zu hinterfragen, dass Gott uns besser kennt und uns mehr liebt, als wir uns selbst und dass deshalb alle Seine Gesetze nur dazu da sind, um uns glücklich zu machen. Für ihn war das ein von Menschen ausgedachter Wunschgott. Er hielt die göttliche Freiheit und Macht für größer als diese Vorstellung. Für ihn stammten die göttlichen Gesetze nicht von Seiner INTELLIGIBILITÄT UND Seinem WILLEN, sondern ALLEINE von Seinem WILLEN, weil der Schöpfer nicht durch Seine Schöpfung gebunden werden kann. Das klingt erst mal überzeugend, aber der Hl. Thomas hätte geantwortet, dass Gott sich selbst durch einen Bund an Seine Schöpfung bindet. Ockham hätte erwidert, dass das nur eine menschliche Projektion sei. Gott ist allmächtig. Gott hätte auch einen Esel als Sühneopfer für unsere Sünden kreuzigen können. Er könnte Mord zu einer guten Handlung erklären. Gott ist frei, jedes Gesetz jederzeit willkürlich zu ändern. Seine Freiheit wird niemals durch Seine eigene Intelligibilität eingeschränkt.

Man könnte meinen, dies sei eine viel höherwertige Konzeption von Gott. Wer könnte dem nicht zustimmen? Tatsächlich aber wird hier der liebende Vatergott, der sich selbst an die Welt bindet, durch ein Gottesbild ausgetauscht, das auch heute in vielen Ländern der Erde vorherrscht: Allah, der Gott der Macht. Islamische Intellektuelle hatten daran gearbeitet, den trinitarischen Gott der Liebe durch den einen Gott der Macht zu ersetzen. Ockham setzte sich durch. Aber etwas Furchtbares hatte begonnen. Willkürliche Machtausübung war auf einmal göttlich. Die Gier nach Macht war dadurch legitimiert. Unterwerfung unter eine fremdbestimmende Macht wurde jetzt als unerträglich erfahren. Damit war die göttliche Schöpfungsordnung, der der Mensch zu gehorchen hat, nicht mehr das Beste für den Menschen, sondern abscheuliche Unterdrückung.

Wenn dieser Macht-Gott Gesetze einführt, dann sind sie willkürlich. Die menschliche Freiheit und Erfüllung wird durch diese von oben begrenzt. Die Gesetze entspringen nicht einer wahren umfassenden menschlichen Natur. Sie entsprechen nicht dem Menschen. Sie dienen nur seiner Versklavung. Damit wird Gott zum Feind des Menschen. Der Mensch will sich von seinem Unterdrücker befreien.

Dieses Denken führt im 15ten Jahrhundert zu einer kulturellen Revolution. Die Universitäten zerfallen in zwei Strömungen. Auf der einen Seite die alten, die „antiqui“ oder „thomisti“, auf der anderen Seite die „moderni“ oder „occamisti“. Die letzteren beschuldigten die ersteren, dass sie dumm seien und die wahre Relation von Freiheit und Macht nicht verstünden. Jetzt wurden die Universitäten stärker als die Klöster, die weltlichen Fürsten stärker als die Bischöfe. Die Intellektuellen naturalisierten das Leben. Das Übernatürliche wurde zu Gunsten des Natürlichen zurückgedrängt.

Mit der Renaissance kommt das antike Heidentum zurück. In Kunst und Kultur wird das Übernatürliche überflüssig. Das alte Griechenland und Rom wurden wieder entdeckt als Quellen der humanistischen Entfaltung.

Die Strategie der glaubhaften Abstreitbarkeit wird wieder benutzt: „Ich sage nur, dass die Schöpfung gut ist. Ich sage nur, dass Sex gut ist. Ich sage nichts Schlechtes über den Zölibat oder die Sakramente. Ich vertrete nur die klassischen Quellen der alten Griechen und Römer.“

1469 wird Niccolò Machiavelli in eine korrupte Familie und Umgebung hineingeboren. Er schrieb ein berühmtes Buch: „Der Fürst“. Ein bekannter Satz daraus: „Der Zweck (das Ziel) heiligt die Mittel!“ Wenn der Fürst ein bestimmtes Ziel hat, dann ist alles gerechtfertigt, um dieses Ziel zu erreichen. Warum? Weil es genauso ist für Gott. Wenn Gott der Fürst des Universums ist und er jederzeit alle Gesetze ändern kann, um seine Ziele zu erreichen, dann kann auch der Mensch jederzeit willkürlich alle Regeln und Gesetze ändern.

Nun kommt Martin Luther. Durch Machiavelli witterten die deutschen Fürsten Morgenluft, um die Macht den Bischöfen zu entreißen. Luther war ihnen willkommen. Er lernt unter nominalistischen Lehrern in Erfurt und nennt Wilhelm von Ockham „mein lieber Meister“. Er sagt: „Ich bin nichts außer ein Anhänger von Wilhelm von Ockham.“ Aber das lässt ihm keine Wahl: Jetzt muss er unglaubliche Angst vor dem Willkürgott haben. Wie kann er ihn besänftigen? Wie kann er ihm vertrauen? Wenn Gott jederzeit seine Gesetze ändern kann, wenn heute Mord (Ehebruch, Homopriester) schlecht und morgen gut ist, wie weißt du dann, ob du in einer gerechten Beziehung mit einer solch despotischen Gottheit stehst? Wie kannst du vorhersagen, was er morgen dekretieren wird? Wenn Gott alles heiligen kann, was er im Moment will, dann werden irdisch intelligible Liebe oder Heiligkeit unwichtig, dann zählt allein der Glaube, in einer vereinfachenden Lesart eines verkürzten Römerbriefes. Gott ist für Luther nicht mehr ein liebender Vater, der Seine Kinder großzieht, sondern ein Schöpfer, der seine Macht je nach Gusto ausspielt.

Von Luther ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Calvin und seiner doppelten Prädestinationslehre, nach der der Willkürgott auch dadurch verherrlicht wird, dass er Seelen zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt.

Die Ideen von Luther und Calvin fielen auf fruchtbaren Boden. Wie immer haben zeitgeistige Ideen noch lange nach dem Tod ihrer Initiatoren Konsequenzen.

Heute verstehen selbst viele Katholiken das göttliche Gesetz im Sinne der via moderna als blinden Gesetzesgehorsam. (Ich gehorche der Regel, weil Gott sie im Moment so stipuliert. Die Regel hat aber nichts weiter mit meinem Leben zu tun. Für meine Humanität wäre es besser, wenn ich die Ehe brechen oder eine Homoehe eingehen könnte, aber ich tue es nicht, weil es ein Willkürgesetz Gottes gibt, das das nicht erlaubt. Also muss ich alles tun, damit die Bischöfe diese Gesetze öffentlich ändern. ALLES IST WILLKÜRLICH. Nur ich Mensch will mein Bestes, Gott will das nicht. Gott sei Dank, gibt es den Personal Jesus der Protestanten, der erlaubt alles. Kardinal, du musst sofort mit den Protestanten gemeinsame Gottesdienste feiern und nur noch lieb sein!)

Die Angst dieser Katholiken ist nicht das schlechte Gewissen eines ungehorsamen Kindes, den liebenden Vater zu verletzen, sondern die Angst eines unartigen Sklaven vom Herrn erwischt und bestraft zu werden.

JPII hat am Ende seines Buches, „Die Schwelle der Hoffnung überschreiten“, geschrieben, dass die Sünde unser Verständnis von Gott als liebenden Vater zu einem unterjochenden Sklavenhalter verdreht.

Noch einmal: Wenn Gott der liebende Vater ist, dann ermöglichen Seine Gesetze überhaupt erst unsere wahre Freiheit, aber wenn Seine Gesetze willkürlich sind, dann gibt es keine Harmonie mehr, sondern nur noch Spannung, dann begrenzt die göttliche Macht unsere Freiheit, dann begrenzen seine göttlichen Gesetze unsere persönliche Selbstbestimmung. Und damit wird das Gesetz als solches zum willkürlichen Diktat dessen, der an der Macht ist, überall, in allen Bereichen. Die einzige Hoffnung die wir dann haben, ist genug Menschen für eine Mehrheit zu finden, um den bestehenden Gesetzgeber durch unseren eigenen zu ersetzen.

Trotz Risiko der Vereinfachung:

14te Jahrhundert: Intellektuelle Revolution

15te Jahrhundert: Kulturelle Revolution

16te Jahrhundert: Theologische Revolution
(Der Theologe erhebt sich über den Bischof, das Individuum über die Kirche, der weltliche Herrscher über die Herrschaft der Kirche)

17te Jahrhundert: Philosophische Revolution (Die menschliche Vernunft erhebt sich über den Glauben, über die Wahrheitsansprüche der Kirche. Der Philosoph ersetzt den Theologen. Die Universität ersetzt das Kloster. Der Kirche verbleiben nur Seminare, wo man den Glauben nur noch als Privatsache studieren kann, weil ihm keine öffentliche Relevanz mehr zugebilligt wird.)

18te Jahrhundert: Politische Revolution (Der Mensch hört auf, jeglicher Autorität zu gehorchen, die absolutistischen Herrscher werden abgesetzt, die Geschichte erhebt sich über die Ewigkeit, der heilige Bund der via antiqua wird ersetzt durch den Gesellschaftsvertrag der via moderna, nichts ist mehr heilig, alles ist rein säkular, die Religion ist endgültig zur Privatsache geworden.)

19te Jahrhundert: Wissenschaftliche Revolution (Darwin beschreibt die gesamte biologische Entwicklung durch das Prinzip des Machtkampfs, Marx tut dies in Bezug auf die soziologische, Freud in Bezug auf die psychologische Entwicklung. Der Ödipus Komplex zerstört die Vaterehrung. Alle unsere Probleme sollen dem patriarchalen Komplex entspringen. Der Vater muss weg, damit wir frei sein können.)

20te Jahrhundert: Sexuelle Revolution (Wenn das Modell der Welt nicht mehr die mystische Hochzeit zwischen Gott und Mensch, Himmel und Erde, Geist und Materie, Kirche und Staat ist, wenn die Ehe nur noch ein von Menschen konstruierter Vertrag auf einem Stück Papier ist, den patriarchale Männer benutzen, um die Frauen zu unterdrücken, was ist dann Freiheit außer das Recht auf Abtreibung, das Recht zu Wählen, usw.? Das mögen die Vertreter der via moderna nie intendiert haben, aber unabdingbar folgt aus ihrem Denken: der Zusammenbruch der Ehe, weitverbreitete „schuldlose“ Ehescheidung, keinerlei Bevölkerungswachstum, Bevölkerungsschwund, wilde Ehen, Homosexualität, Recht auf Abtreibung. Weil die integrale Verbindung zwischen Ehe und Fruchtbarkeit nicht mehr verstanden wird, kann auch die Homoehe nicht mehr zurückgewiesen werden.)

Abschließend plädiert Dr. Hahn für die Notwendigkeit der Kirche zum Vatergott zurückzukehren. Das sehen selbst einige Protestanten so. In diesem Zusammenhang zitiert er Can. 260 und 261 des Katechismus. Auch der Papst ist hierfür unverzichtbar.