Seltenheit von Wundern?
Was aber das Berufen auf die allgemeine Erfahrung und die angeblich ganz exorbitante Seltenheit der Wunder betrifft, so ist darauf aufmerksam zu machen, daß die Wunder zwar im Vergleiche zum gewöhnlichen Laufe der Dinge außerordentliche Ausnahmen von der Regel, deßhalb aber nicht vereinzelte, nur von Wenigen bezeugte Thatsachen sind. Vielmehr sind die Wunder, welche die gesammte Geschichte der göttlichen Offenbarung und der wahren Religion begleiten, überaus zahlreich und durch eine große Menge der zuverlässigsten Zeugen bestätigt. Nicht nur sind alle Hauptmomente der Geschichte des alten Bundes von großen Wundern, deren Zeuge das Volk Israel und zum Theile selbst die Heiden waren, und nicht nur ist das Christenthum bei seinem Eintritte in die Welt von zahlreichen durch eine Fülle von Beweisen feststehenden Wundern begleitet, sondern es dauern auch in der Kirche Christi die Wunder durch alle Jahrhunderte fort und sind durch unzählige, einander gegenseitig stützende Zeugnisse für Jeden, der die Thatsachen redlich prüft, über allen Zweifel erhaben. Demnach sind auch die Wunder keineswegs auf einige längst entschwundene Zeiten und weit entlegene Oertlichkeiten beschränkt. Obwohl auch abgesehen von der Fortdauer der Wunder in der Kirche, die Wunder des alten und noch mehr die des neuen Testamentes, wie die der ältesten Kirchengeschichte, historisch vollkommen feststehen, so läßt es sich doch nicht bestreiten, daß die Protestanten durch ihre Leugnung aller, wenn auch historisch noch so beglaubigter, Wunder in der katholischen Kirche und die rationalisirende Preisgebung dieser Wunder, ganz folgerichtig die Gewißheit der biblischen Wunder im Bewußtsein der Menschen tief erschüttert und der „kritischen“ Vernichtung derselben den Weg bereitet hat.Dogmatische Theologie von Dr. J. B. Heinrich, Domdekan, Generalvikar und Professor der Dogmatik am bischöflichen Seminar zu Mainz, erster Band, Mainz 1873, S. 370, Anm. 1.