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"Bye-bye, Khartum": Der Sudan vor der Spaltung

(gloria.tv/ Kirche in Not) Der Sudan steht vor einer schicksalhaften Stunde seiner Geschichte: Am kommenden Sonntag, den 9. Januar, entscheiden die mehrheitlich christlichen und Naturreligionen angehörenden Einwohner des Südsudan darüber, ob sie vom überwiegend islamischen Norden des Landes unabhängig werden wollen. Die Entscheidung wird weitreichende Konsequenzen über das Land hinaus haben. Über das Referendum und seine Folgen sprach Volker Niggewöhner vom weltweiten katholischen Hilfswerk "Kirche in Not" mit dem Comboni-Missionar Bruder Hans Dieter Ritterbecks aus Leer im Südsudan.

Bruder Ritterbecks, gibt es aus Ihrer Sicht noch Zweifel über den Ausgang des Referendums am 9. Januar?

Ich behaupte, das Wahlergebnis steht schon fest. Die Tendenz geht eindeutig in Richtung Unabhängigkeit. Das Referendum wurde immer schon als Kernstück des im Jahr 2005 abgeschlossenen Friedensvertrages angesehen. Die Südsudanesen waren sich seither im Klaren darüber, dass am 9. Januar 2011 die Geschichte Sudans neu geschrieben werden kann und sich für den Süden die einzigartige historische Chance bietet, unabhängig von Khartum zu werden.

Welche Hoffnungen verknüpfen die Menschen im Süden konkret mit einer Loslösung vom Norden?

Selbstständigkeit, Fortschritt sowie soziale und wirtschaftliche Entwicklung. Es gibt eine Menge zu tun, denn es mangelt überall an Fachkräften. Die internationale Staatengemeinschaft ist aufgefordert, hier konstruktive Hilfe zu leisten. Es geht dabei nicht nur um Ausbildung, sondern auch um ein generelles Umdenken. Einerseits sind viele Menschen hier noch stark in der Tradition verankert und ziehen mit Speer und Stock bewaffnet hinter ihren Kühen her. Aber andererseits gibt es in Juba oder anderen größeren Städten des Südsudan viele junge Leute, die mit allen modernen Kommunikationstechniken vertraut sind.

Gibt es auch Gründe, für den Erhalt der Einheit zu stimmen?

Wenn man sich die Geschichte des Landes vor Augen hält, kann man kaum gute Gründe finden, warum die Südsudanesen für den Status quo stimmen sollten. Vom Regierungssitz Khartum aus wurde seit 2005 so gut wie nichts unternommen, um die Einheit attraktiv zu machen. Die klassische Gesellschaftsordnung im Nordsudan sieht nach wie vor folgendermaßen aus: Erstens der arabische muslimische Mann, zweitens die arabische muslimische Frau, drittens der nicht arabische muslimische Mann, viertens die nicht arabische muslimische Frau. Erst dann folgt der ganze Rest. Da sich nur wenige Südsudanesen zum Islam bekennen, kann man sich unschwer vorstellen, wo sie eingruppiert werden. Die Geschichte des Landes ist von Sklavenhandel, Diskriminierung und Unterdrückung geprägt und die Südsudanesen wurden niemals als gleichberechtigt angesehen. Die Beibehaltung der Einheit wäre für den Südsudan daher undenkbar.

Wird das Referendum fair ablaufen oder gibt es Anzeichen für Wahlfälschungen und Manipulationen?

Es gab hier und dort gewisse Störungen, aber bis jetzt konnten wir keine großangelegte Einschüchterung oder Gewaltandrohung beobachten. Wir hoffen, dass das so bleibt. Unregelmäßigkeiten gab es zum Beispiel bei der Registrierung der Wahlberechtigten für das Referendum. Vor einigen Tagen hörte ich von einem Journalisten, dass beispielsweise in der Region Abyei überhaupt keine Registrierung stattgefunden hatte. In dieser erdölreichen Region wird ein gesondertes Referendum abgehalten. Abyei wird von dem südsudanesischen Stamm der Dinka Ngok besiedelt, die sich wohl mehrheitlich für die Unabhängigkeit entscheiden würden. Khartum besteht allerdings darauf, dass auch die Misseriya bei der Registrierung berücksichtigt werden. Dieser nordsudanesische Nomadenstamm treibt saisonweise seine Herden in das Weideland um Abyei und würde geschlossen für die Einheit stimmen. Außerdem gilt generell für das ganze Referendum, dass 60 Prozent aller Registrierten ihre Stimme abgeben müssen. Andernfalls ist das Ergebnis ungültig. Hier könnte es zu Manipulationen kommen. Der Präsident des Südsudan, Salva Kiir, hat schon im Vorfeld eindeutig verlauten lassen, dass bei einem Scheitern des Referendums der Südsudan unilateral seine Unabhängigkeit erklären würde. Er scheint sich sicher zu sein, dass weite Teile der internationalen Gemeinschaft eine solche Entscheidung mittragen würden. Das Problem wäre allerdings die Grenze, da es noch keine übereinstimmende Demarkationslinie gibt.

Die Analphabetenrate ist im Sudan extrem hoch. Wissen die Menschen ausreichend, worum es bei dem Referendum geht?

Es stimmt, dass es im Südsudan sehr viele Analphabeten gibt. Auf dem Wahlschein hat man sich darum mit zwei einfachen Abbildungen beholfen: Ein Handschlag mit zwei Händen steht für die Einheit und eine ausgestreckte Hand steht für die Trennung. Letzteres würden wir im Deutschen mit Winken oder "Auf Wiedersehen" übersetzen. Also: "Bye-bye, Khartum". Das hat hier jeder kapiert, und ich denke, die Menschen wissen, worum es geht.

Beobachter befürchten, dass es während und nach dem Referendum wieder zu Gewaltausbrüchen und möglicherweise sogar zu einem neuen Krieg kommen könnte …

Ich persönlich glaube das nicht. Aber genau kann das keiner sagen. Es wird zwar beobachtet, dass beide Seiten massiv Truppen an der vermeintlichen Grenze zusammengezogen haben. Ich hoffe aber, dass es sich dabei nur um ein Muskelspiel handelt. Der Sudan hat bereits zwei Kriege hinter sich; man müsste meinen, dass die Menschen genug haben. In diesem Zusammenhang muss aber auch gesagt werden, dass die Südsudanesen bereits im Unabhängigkeitstaumel sind. Das ist eine hochbrisante emotionale Angelegenheit. Sollte es während des Referendums tatsächlich chaotisch werden, könnte das zu Überreaktionen führen.

Die Christen im Norden des Landes leiden unter starker Diskriminierung. Ist zu befürchten, dass sich ihre Lage im Falle einer Loslösung des Südens noch einmal verschlimmert?

Ja, das befürchte ich. Der Präsident des Nordens, Omar Hassan al-Bashir, hat schon verlauten lassen, dass sich die Verfassung des Nordens im Falle der Unabhängigkeit des Südens verändern wird. Er sagte, dass die Scharia und der Islam die neuen Grundsteine für die reformierte Verfassung sein werden. Wenn das tatsächlich eintritt, wird es für Christen und Nichtmuslime im Norden noch viel schwieriger. Aber Jesus Christus schreibt die Geschichte. Und wir wissen, dass der Herr seine besondere Aufmerksamkeit den kleineren Herden schenkt.

Welche Aufgaben muss die katholische Kirche jetzt wahrnehmen?

Die Kirche befindet sich vor allem auf einer Friedens- und Versöhnungsmission. Die Auseinandersetzung mit dem Norden hat viele Wunden hinterlassen und auch die südsudanesische Rebellenorganisation SPLM (Sudanese People’s Liberation Movement) hat viel Schuld auf sich geladen. Überhaupt bilden die Südsudanesen keine brüderliche Volksgemeinschaft. Unter den vielen ethnischen Gruppen herrschen oft Spannungen, die wir uns als Europäer kaum vorstellen können. Es wird noch dauern, bis sich ein allgemeines nationales Bewusstsein herausgebildet hat. Das ist eine Herausforderung, die von der heranwachsenden und nachfolgenden Generation bewältigt werden muss. Hier leistet die Kirche einen maßgeblichen Beitrag. Hinzu kommt, dass die Kirche auch ein wachsames und kritisches Auge auf die „Neuen Herren“ des neuen südsudanesischen Staates haben muss. Auch das tut sie jetzt schon, aber in Zukunft kommt dieser Aufgabe noch mehr Bedeutung zu. Denn bisher hatte man mit Khartum genug zu tun, jetzt aber wird im eigenen Haus gefegt. Ein Bischof hat bereits ein sehr mutiges Wort gesprochen, als er sagte: „Wir wollen nicht die alten Diktatoren gegen neue eintauschen.“ Dieses Zitat zeigt, dass sich die Kirche schon auf die neue Situation vorbereitet.