«Die Zeit» empfiehlt Geschichtsvergessenheit … (www.infosperber.ch)

«Die Zeit» empfiehlt Geschichtsvergessenheit …

Warum sollen deutsche Intellektuelle noch an den Zweiten Weltkrieg denken. Den Kopf freihalten für neuen Russlandhass ist angesagt.

Christian Müller / 11.05.2021

«Die Zeit», vor einigen Jahrzehnten international als «beste deutsche Zeitung» geehrt, ist nicht mehr, was sie einmal war. Die deutsche Wochenzeitung aus Hamburg leidet spätestens seit Josef Joffe als Herausgeber firmiert, unter sichtbarer Sympathie für eine erneute Militarisierung Deutschlands. Infosperber hat im März 2020 darüber berichtet.
Soll man also einfach wegschauen? Nein, heute muss man gelegentlich wieder reinschauen, sind die geopolitischen Spannungen zurzeit doch gefährlicher als je seit dem Kalten Krieg. Und «Die Zeit» ist in Deutschland immerhin eine Publikation, die zur politischen Meinungsbildung einiges beiträgt.
Seit ein paar Tagen nun kann man auf «Zeit online» einen Kommentar lesen, der dem Historiker die Sprache verschlägt. Alan Posener, eine politisch auffällig schillernde Figur, war er doch als junger Mann auch schon mal Mitglied kommunistischer und maoistischer Organisationen, bringt darin all seinen Hass gegen Russland zum Ausdruck. Das ist zwar wenig überraschend, versuchen sich doch die deutschen Medien in puncto Russophobie seit einiger Zeit gegenseitig zu übertrumpfen. Der letzte Abschnitt seines Pamphlets allerdings könnte in die Geschichte eingehen:
«Darüber hinaus muss sich gerade die kulturelle Linke von der Vorstellung lösen, der Frieden mit Russland um beinahe jeden Preis sei wegen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941 eine moralische Pflicht. Zu den Hauptopfern des deutschen Vernichtungskriegs im Osten gehörten neben Polen und Balten vor allem die schon von Stalin geschundenen Ukrainer. Es müsste daher zur deutschen Staatsräson gehören, die Demokratie in diesem neuen Staat genauso wie in Polen und den baltischen Staaten zu fördern, ihm Sicherheit in der NATO zu geben und einen Weg zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu weisen. Das schallende deutsche Schweigen hierzu übertönt fast die laute russische Propaganda.»
Auf die Quintessenz reduziert, heisst das: Dass Deutschland unter Hitler die damalige Sowjetunion angegriffen hat, darf – oder soll jetzt endlich – vergessen werden! Was sind schon über 25 Millionen Kriegsopfer, mehr als die Hälfte davon Zivilisten – ein Grossteil davon die Grossväter und Grossmütter der heute lebenden Russen! (Deutschland selber hatte nicht ganz acht Millionen Kriegsopfer zu verzeichnen, davon etwa zwei Millionen Zivilisten.) Die deutschen Köpfe und Herzen sollen endlich wieder frei sein, die Russen erneut zu verachten, wie es damals Hitler in seinem Buch «Mein Kampf» empfohlen hatte. Da sind Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg doch nur hinderlich …

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PS: Wenn Posener in seinem Pamphlet schon von der Ukraine schwärmt, die möglichst bald in die EU aufgenommen werden sollte, dann sollte er als Sohn eines jüdischen Vaters vielleicht auch nicht ganz vergessen, dass die Ukrainer – im Gespann mit der deutschen SS – in den 1940er Jahren so um die 1,5 Millionen Juden ermordet haben – allein in Babyn Jar bei Kiev in nur zwei Tagen 34’000 – nachzulesen zum Beispiel auch in der «Welt», für die er, Posener, ja auch schreibt. Oder er kann in der Osteuropa Zeitschrift nachlesen, wie die Ukraine um die eigene Geschichte während des Zweiten Weltkrieges bis heute einen grossen Bogen macht. Oder er kann, falls er Ukrainisch versteht, in der Medienmitteilung des Stadtrates der Stadt Ternobil in der Nordwest-Ukraine nachlesen, warum die Stadt jetzt, im März 2021 (!), ihr 15’000-Plätze-Fussballstadion auf Schuchewytsch-Stadion umgetauft hat. Roman Schuchewytsch war einer der Kommandeure des deutschen «Bataillons Nachtigall».

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Boni
Es mag eine subjektive prorussische und eine subjektive proukrainische Lesart der Geschichte des 20. Jahrhunderts geben. Es fehlt aber an einer objektiven deutschen Geschichtsschreibung. Insofern können die hier angestellten Überlegungen nur Debattenbeiträge aber keine Erhellungen zu den Ereignissen jener Zeit sein.
Kirchfahrter Archangelus
Korrekt. Wobei im gegenwärtigen Meinungsklima bereits die Akzeptanz verschiedener Sichtweisen einen riesigen Fortschritt darstellen würde...