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Der Kanarienvogelzüchterverein von Oberminzbach. Von Dr. Rudolf Kaschewsky s.A.

Der Kanarienvogelzüchterverein von Oberminzbach hatte eine lange Tradition und war weit über die Grenzen des kleinen Ortes hinaus berühmt.

Nicht nur daß die Leute aus Niederminzbach und der nahen Kreisstadt begeistert die Ständige Kanarienvogel-Schau von Oberminzbach aufsuchten und sich dort in allen diese schönen Vögel betreffenden Fragen Rat holten - auch aus weiter Ferne, ja sogar dem Ausland kamen immer wieder briefliche Anfragen oder Besucher, um aus dem Wissensschatz der Oberminzbacher Vogelfreunde zu schöpfen.

Es verging kaum ein Wochenende, an dem nicht irgendeine Veranstaltung stattfand, die mit der Aufzucht der Kanarienvögel, ihrer Pflege und ihrer Vermehrung zusammenhing, und stets konnte man rund um das Versammlungslokal eine Menge auswärtiger PKWs und Autobusse stehen sehen, im Sommer mehr, im Winter weniger.

Höhepunkt aber war die jährliche Generalversammlung - da mußte die staatliche Eisenbahnverwaltung sogar Sonderzüge einsetzen.

So gingen die Jahre ins Land - und der Kanarienvogelzüchterverein blieb der unbestrittene Stolz des Ortes.

Besonders denkwürdig war eine Generalversammlung, an die sich noch viele Älteren erinnern können. Das Thema lautete: »Das Wesen des Kanarienvogels». Es war imposant, mit welch beredten Worten und welch spritzigem Geist man sich dem Thema zuwandte.

Das Wesen - was war das? Lag es in dem lieblichen Gesang, lag es in dem schönen gelben Gefieder der Tiere? Schließlich kam man darauf: das Wesen sei das »Leben«, denn - in der Tat - was ist denn schon das Gefieder oder der (etwa auf Tonband aufgenommene) Gesang eines verendeten Vogels?

»Auf das Leben kommt es an!« rief begeistert der Vorsitzende in die überfüllte Versammlungshalle - und donnernder Applaus dankte es ihm.

So kam es denn auch schon bald zu einer Ausweitung der Thematik des Vereins. Haben nicht auch Papageien und Wellensittiche, ja, sogar Sperlinge und Schwalben Teil an diesem »Leben«, auf das es letztlich ankommt?

So bezog man auch diese Vögel mit in die Arbeit des Vereins ein; und schon bald hatte der Kanarienvogelzüchterverein von Oberminzbach Abteilungen für alle möglichen Vögel - und sein Ruf wuchs noch mehr!

Auf den sich anschließenden Tagungen ging man voll Überschwang noch weiter: »Haben nicht auch Fledermäuse, Kaninchen und Katzen Leben in sich - wenn aber das Leben das Wichtigste ist, dann müssen wir auch sie mitbetreuen.« So fanden sich denn bald Behausungen für alle möglichen Tiere im Hof des Kanarienvogelzüchtervereins von Oberminzbach: Da waren Katzenkörbe, Hundehütten, Aquarien und vieles andere mehr zu sehen.

Freilich gab es ab und zu schon einmal Unstimmigkeiten - vor allem, als eine Katze, die dem stellvertretenden Vereinsvorsitzenden gehörte, auf einem ihrer Freigänge nicht nur einige Sperlinge, sondern sogar einen besonders wertvollen Kanarienvogel verspeist hatte.

In einer Ecke des Vereinslokals hörte man sogar einige ältere Mitglieder hinter vorgehaltener Hand fragen: »Wieso hätscheln wir als Kanarienvogelzüchter eigentlich sogar Katzen? Wo bleibt denn unser eigentlicher Vereinszweck?«

Indessen konnte die einmal eingeschlagene Richtung nicht mehr aufgehalten werden, zumal der Verein von allen Seiten mit Lob eingedeckt wurde.

»Welch grandiose Erweiterung des Horizonts!« schrieb die Presse. Und in einem richtungweisenden Vortrag sagte ein Festredner: »Wie eng haben doch unsere Vorfahren vor gar nicht allzulanger Zeit den Begriff des Kanarienvogels gesehen! Heute wissen wir: Ein Kanarienvogel muß nicht unbedingt gelb sein und singen können - er muß das Leben haben, und - Hand aufs Herz - haben nicht auch all die anderen Tiere Leben in sich und sind somit zumindest dem Wesen nach ebenfalls Kanarienvögel?«

Übrigens sickerte nach und nach durch, daß bereits auf der ersten diesbezüglichen Generalversammlung »Berater« des benachbarten Bundes der Spatzenfreunde, des Vereins für zeitgenössische Katzenzucht und sogar des Ziegenzüchterverbandes zugegen waren.

In der Tat - die Festveranstaltungen boten nun ein imposantes Bild: Wo früher nur das langweilige Einerlei der gelben Kanarienvögel vorherrschte, sah man nun bunt gemischt die verschiedensten Tiere beisammen. Es erregte kaum mehr Aufsehen, als eines Tages der Vorsitzende selber mit einem ausgewachsenen Känguruh zur Jahresfeier erschien.

Man war sich einig: »Der Kanarienvogelzüchterverein von Oberminzbach hat das Wesen des Kanarienvogels zu universaler Weite geführt er hat sich selbst übertroffen!«

Nur ganz im geheimen regten sich besorgte Gemüter. Einige der ganz Alten schüttelten mißmutig den Kopf, wenn sie an die Zeiten dachten, wo der wirkliche Kanarienvogel im Mittelpunkt gestanden hatte. Auch einige von den Jüngeren sprachen darüber. »Wieso sind wir Mitglieder des Kanarienvogelzüchtervereins, wenn alles mögliche, nur nicht die Kanarienvögel im Mittelpunkt aller Aktivität steht?« sagten sie.

Die Vereinsspitze und das Gros der Mitglieder blieben davon ungerührt. Umso mehr rumorte es in den Köpfen der wenigen Kritiker. »Wir können das nicht einfach so laufen lassen«, sagten sie, »schon jetzt ist absehbar, daß binnen kurzem in unserem Verein nur noch von Känguruhs, Kamelen und Elefanten, aber überhaupt nicht mehr von Kanarienvögeln gesprochen wird.«

Aber die Entwicklung überrollte sie. Weder vertrauliche Gespräche mit Angehörigen der Vereinsspitze noch flammende Leserbriefe im Vereinsblatt »Der gelbgefiederte Freund« richteten etwas aus; schließlich nahm die Redaktion dergleichen Meinungsäußerungen gar nicht mehr an - »aus grundsätzlichen Erwägungen«, wie es hieß.

Eines Tages gab es einen Aufruhr, als bekannt wurde, daß es einen neuen »Kanarienvogelzüchterverein« in Oberminzbach gebe: Sein Kennzeichen war, daß er sich wieder ganz ausschließlich mit der Aufzucht und Pflege von Kanarienvögeln beschäftigte!

Man wußte zunächst gar nicht genau, wer Mitglied war, ob es sich um einen Zweigverband des ursprünglichen Vereins handelte oder eine Art Konkurrenzunternehmen. Aber die Arbeit zeitigte Früchte: Die Vögel des neuen Vereins standen denen des anderen nicht nach, und im Laufe der Zeit wurden sie bekannt und berühmt, und wem es wirklich um Kanarienvögel ging, der wandte sich von nun an den neuen Verein.

Das wiederum ließ die Vereinsspitze des ursprünglichen Vereins nicht ruhen; schließlich stand das Image des traditionsreichen, allseits gelobten Vereins auf dem Spiel.

Bei der nächsten Tagung gab es denn auch nur ein Thema: »Wer will da behaupten, wir befaßten uns nicht mehr mit Kanarienvögeln?«, tobte der Vorsitzende, und erbat seinen Stellvertreter, ein kleines verängstigtes Kanarienvögelchen, das sich inmitten der Katzen, Ziegen, Känguruhs usw. versteckt hatte, hervorzulocken und auf der Rednertribüne zu präsentieren.

»Was ist das - etwa ein Rhinozeros?« rief er siegessicher. »Es ist der lebendige Beweis dafür, daß der Verein den Kanarienvogel hoch in Ehren hält. Wir werden jedenfalls mit aller Schärfe gegen solche Verleumdungen wie die, unser Verein sei seinen Idealen untreu geworden, vorgehen!«

Und als der neue Verein sich gar einen eigenen Vorstand wählte und mit betont kanarienvogelbezogenen Themen an die Öffentlichkeit trat, beantragten die Honoratioren des alten Vereins kurzerhand beim Amtsgericht die Löschung des neuen Vereins.

Begründung: »Wie jedermann weiß, gibt es nur einen Kanarienvogelzüchterverein in Oberminzbach - und das sind wir!«

In der Tat: Seit Menschengedenken stand der Verein so im Vereinsregister. Und hätte der neue Verein sich nicht im letzten Moment mit einem klugen Schachzug einen anderen Namen gegeben - er nannte sich nun »Kanarienvogelzüchter-Bund« so hätte er von Amts wegen seine Tätigkeit einstellen müssen.

So gab es denn von nun an einen »Verein« (dem die angehörten, die es mit den eingesessenen Honoratioren nicht verderben wollten und denen an der Kanarienvogelzucht ohnehin nicht viel lag) und einen »Bund« (derer, die um nichts in der Welt ihren Einsatz für die Kanarienvögel aufgeben oder auch nur vermindern wollten).

»Ich erkläre hiermit ganz deutlich«, ließ der Vorsitzende des alten Vereins überall verkünden, »daß wir mit den Leuten vom sogenannten Kanarienvogelzüchterbund nichts zu tun haben. Jeder, der fortan diesem Betrieb beitritt, soll wissen, daß er in unserem traditionsreichen Verein nichts mehr zu suchen hat und den Titel eines Kanarienvogelzüchters nicht mehr führen darf!«

Das führte zu der merkwürdigen Situation, daß nun einerseits Mitglieder des ursprünglichen Vereins, selbst wenn sie sich ausschließlich der Kälbermast oder der Kaninchenzucht widmeten, sich öffentlich »Kanarienvogelzüchter« nennen durften, andererseits denjenigen, die im »Bund« nichts anderes taten, als Kanarienvögel zu züchten, dieser Titel versagt bleiben sollte.

Es kam zu einer Reihe unliebsamer Prozesse, in denen es um die Erlaubnis zur Verwendung der Bezeichnung ging; sie wurden mal so, mal so entschieden.

Indessen stellte sich bald heraus, daß die wuchtige Drohung des Vorsitzenden nicht den erhofften Erfolg zeitigte.

Immer mehr Kanarienvogelfreunde stellten sich die nüchterne Frage: »Wo wird mein Anliegen ernster genommen?« Und sie entschieden sich für den »Bund«, da sie bei der diffusen Aktivität des alten »Vereins« Bedenken hatten, ob sie damit ihren gefiederten Lieblingen wirklich einen Dienst erweisen würden.

Eines Tages nun geschah etwas Seltsames: In einer eher versteckt angebrachten Verlautbarung im Vereinsblatt »Der gelbgefiederte Freund« stand zu lesen, daß von nun an auch derjenige Mitglied (des alten Vereins) bleiben bzw. werden könne, der dem Kanarienvogel im engeren Sinne so zugetan sei, daß er dessen Pflege und Aufzucht als vorrangig ansehe.

Nur eine Bedingung müsse er erfüllen: Er müsse unterschreiben, daß die übrigen Tiere, denen sich der Verein auch zuwende, ebenfalls Leben in sich trügen und insofern als Kanarienvögel im weiteren Sinne anzusehen seien; außerdem müsse er sich jeglicher Kritik an der Aktivität des Vereins enthalten, also insbesondere nicht mehr behaupten, der Verein habe durch die Erweiterung seiner Thematik seine eigene Identität verlassen.

Sogleich ging unter den echten Kanarienvogel-Freunden, die sich ja jetzt »Bund« nannten, ein Gezerre und Gerede los.

»Wäre es nicht verlockend, endlich wieder dem offiziellen, renommierten Verein anzugehören, an den öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen und einer viel größeren Öffentlichkeit wieder unsere Kanarienvögel präsentieren zu können?« sagten die einen, »Das wäre Verrat«, sagten die anderen, »niemals können wir zulassen, daß etwa ein Hamster oder ein Kamel Kanarienvogel genannt wird - auch nicht im weiteren Sinne!«

Und so kam es erneut zu einer Teilung: Die Erstgenannten schlossen sich wieder dem ursprünglichen »Kanarienvogelzüchterverein von Oberminzbach« an; sie durften sogar den Zusatz »Abteilung für Kanarienvögel im engeren Sinne« tragen.

Brav unterzeichneten sie die Bedingungen - und durften sich fortan der Pflege echter Kanarienvögel widmen.

Bei großen Veranstaltungen freilich, wenn z.B. ein Zuchtbulle als »Kanarienvogel des Jahres« prämiert wurde, mußten sie zugegen sein und applaudieren.

Für den alltäglichen Sprachgebrauch hatten sie eine diplomatische Lösung gefunden: Bei echten Kanarienvögeln sprachen sie schlicht von »Kanarienvögeln«, bei den übrigen Tieren, die der Verein züchtete, von »restlichen« oder »weiteren Kanarienvögeln«. Intern nannte man diese Gruppe von Kanarienvogel-Freunden »Realos«.

Die anderen waren die »Fundis«. Sie blieben stur. »Ein Ochse bleibt ein Ochse, und ein Kanarienvogel bleibt ein Kanarienvogel«, war ihre ständige Rede, etwa beim wöchentlichen Stammtisch.

Für den Außenstehenden wurde die Situation immer schwerer zu durchschauen. Auf der einen Seite gab es den Großverein, der auch bei jeder Gelegenheit das Wort »Kanarienvogel« in den Mund nahm, im übrigen aber ganz anderen Aktivitäten nachging.

Daneben gab es dessen Spezialabteilung für »Kanarienvögel im engeren Sinne«, die von den meisten Vereinsmitgliedern jedoch als »Mißgeburt« oder zumindest »fünftes Rad am Wagen« angesehen wurde, weil sie deren Existenzberechtigung nicht verstehen wollten.

Als drittes gab es den erwähnten »Kanarienvogelzüchterbund«, der von beiden vorhererwähnten Gruppen mit unverhohlenem Mißtrauen beäugt wurde.

Alle drei Gruppen lebten ziemlich kontaktlos nebeneinander her. Sehr selten gab es Leserbriefe oder Vorträge, die auf diese Situation Bezug nahmen.

An einen solchen Vortrag erinnere ich mich noch; das Thema lautete: »Kann ein Kanarienvogelzüchterverein jemanden nur deshalb, weil er wirkliche Kanarienvögel züchten will, aus seinen Reihen ausschließen?«

Heute freilich ist die Kanarienvogelzucht in Oberminzbach völlig erloschen. Manchmal erzählen zwar Wanderer, sie hätten in der Nähe gelbe Singvögel getroffen; aber es ist unwahrscheinlich, daß sich Exemplare dieser Gattung in unseren Breiten so lange gehalten hätten - die Leute waren wohl einer Täuschung erlegen.

Aus »Una voce-Korrespondenz», 19,2, März-April 1989.
AlexBKaiser
Hier ist sowas ähnliches aus der Lokalpresse
Aquila
Es tut in diesen Zeit wohl, in Beiträgen etwas von Kanarienvögeln zu lesen und nichts von der Regierung!